Mit dem Miniature Clip Mic System MCM entwickelte Neumann nicht nur sein erstes Clip-Mikrofon für den Livebühnen-Einsatz, sondern will das Elektret-Prinzip in mechanisch modularem Konzept auf „Neumann-Standard“ heben.
Ein neues Mikrofon von Neumann – das ist in mehrfacher Hinsicht aufsehenerregend: Kaum ein anderer Hersteller verbindet wohl vergleichbar Tradition, Historie und aktuelle Technologie wie das 1928 in Berlin gegründete Unternehmen, das seit Anfang der 90er-Jahre Teil der Sennheiser-Firmengruppe ist. Während rundum immer neue und günstigere Mikrofone durch die virtuellen Schaufenster der Versandhäuser sliden, ist Neumann einer sehr gewählten Produktphilosophie treu geblieben: Wenn es denn einmal ein neues Produkt zu vermelden gibt, hat man fast den Eindruck, es sei ebenfalls bereits mit einer DNA entwickelt worden, die das Fundament zum nächsten Klassiker legt.
Qualitätsherausforderung Bühnen-Liveeinsatz
Dabei pflegt man schon lange kein auf reinen Studiobetrieb ausgelegtes Portfolio. Neumann-Mikrofone in hochwertigster Kondensatortechnik finden sich nicht nur im Mic-Case jeden Tonmeisters, der etwas auf sich hält, sondern sind Standard auf vielen Jazz- und Klassik-Bühnen, ob im reinen Live- oder kombinierten Hybrid-/Streaming-Einsatz. Einzig, was bisher fehlte, waren kleine, kompakte Mikrofone, die sich unauffälliger und damit auch oft näher an der Quelle positionieren lassen. Dem stand bisher ein scheinbar unüberwindlicher Graben gegenüber, so Neumann-Geschäftsführer Ralf Oehl: „Unser Anspruch bei Neumann ist stets, das Optimum in der Klangqualität zu erzielen. Hierbei ist aus unserer Sicht die Kondensatortechnologie anderen Lösungen, wie z. B. dynamischen, in vielerlei Hinsicht überlegen. Deshalb ist sie auch seit über 90 Jahren der Grundstein und die Kernkompetenz von Neumann. Gleichzeitig haben unsere klanglich überlegenen Lösungen auch Limitationen, welche ihre Nutzbarkeit für gewisse Applikationen bisher ausgeschlossen oder zumindest deutlich eingeschränkt haben.“
Gemeint sind damit vor allem die im Live-Betrieb – ob man es mag, oder nicht – einfach unverzichtbaren Wireless- Strecken: „Eine derart kompakte Kapsel mit überlegenem Dynamikbereich bei geringer Versorgungsspannung ist mit klassischer Kondensatortechnik nicht umzusetzen. Allein die Elektronik, um beim Betrieb an Taschensendern eine ausreichend hohe Spannung zu erzeugen – die trotz kleiner Membran ein sehr niedriges Rauschen gewährleistet – würde die Kapsel deutlich vergrößern. Elektretmikrofone hingegen sind vorpolarisiert, brauchen deswegen keine Speisespannung und haben dadurch einen Vorteil.“
Abgesehen davon, dass man Fertigungsstreuungen nirgends gerne sieht, wären diese auch im hektischen Live-Betrieb ein absolutes „no go“. Wenn man ein großes, dicht mikrofoniertes Ensemble auf der Bühne hat, Kanäle auch zusammenfassen muss, kann man unmöglich noch beginnen, Mikrofontoleranzen zu berücksichtigen. Ralf Oehl: „Die geläufigen Konzeptionen und Fertigungstechnologien für Elektretkapseln liefern leider relativ große Exemplarstreuungen in der Serienproduktion, die für uns nicht tolerabel sind.
Wir wollten Elektretmikrofone mit konstanten Eigenschaften bauen, damit Toningenieure nicht immer wieder zeitaufwändig gegen Fertigungstoleranzen in Pegel und Frequenzgang arbeiten müssen.“ Darüber hinaus soll das Mikrofon, das vielleicht beim live oft nötigen Pragmatismus gar nicht 100,00 % platziert werden kann, auch klanglich mitarbeiten und überzeugen: „Über die Jahre sind immer mehr Techniker und Künstler auf uns zugekommen und haben uns darüber hinaus mitgeteilt, dass sie sich im Vergleich zu den bisher auf dem Markt befindlichen Clip-Mic-Systemen mehr Substanz, mehr Präzision in den Tiefen und Mitten und gleichzeitig Offenheit wünschen. Quasi eine echte „Neumann Referenz“-Lösung.“ Wer denkt, so eine Lösung sei mit dem gesammelten Mikrofon Knowhow schnell auf die Beine gestellt, irrt, korrigiert Ralf Oehl, der als Geschäftsführer natürlich eigentlich an eher schnellen als langwierigen Prozessen interessiert ist: „Letztlich hat unser Entwickler-Team über einen Zeitraum von sechs Jahren an einer Optimierung des Kapselaufbaus und des Fertigungsprozesses gearbeitet. Und das Ergebnis kommt nun auf den Markt.“
Aus Anwendersicht verblüffend ist, dass es mit dem eigentlichen „Erfinden“ der Kapsel selbst noch lange nicht getan ist. Im Gegensatz zu den oft stark miniaturisierten Aufbauten von Elektretkapseln strebte das Neumann-Team ein eher modulares, robustes, langlebiges und womöglich servicebares Mikrofon an, so Stephan Mauer, der die Neuentwicklung als „Portfolio Manager Live Sound & Broadcast“ begleitet hat. „Der Aufbau unserer Kapsel KK 14 ist in Summe ein ganz anderer als der von bisherigen Lösungen auf dem Markt. Wie haben unsere komplette Erfahrung aus der Echtkondensatorfertigung eingebracht. Die Kapsel sieht deshalb auch ganz anders aus und gleicht mechanisch fast einer Miniaturisierung unserer KM-Serie.“ Ein Eindruck, der auch optisch verblüfft: auf einem Einzelfoto ohne optische Referenz wie einem Instrument sieht das KK 14 mit seinem edlen Look eher größer aus. Der an Echtkondensatormodelle angelehnte Aufbau des Mikrofons biete jetzt enorme Vorteile: „Die im MCM verwendete Kapsel KK 14 hat einen für Neumann typischen Schichtaufbau mit vielen Einzelkomponenten, was eine hohe und voneinander unabhängige Optimierung der einzelnen Teile ermöglicht. Die Fertigung der Komponenten der Kapsel und deren Montage ist sehr diffizil, wird aber durch unsere manuelle Fertigung und die nachfolgende strenge Qualitätskontrolle exzellent beherrscht.“
Der Einsatz einer Elektretfolie stellte das Research & Development-Team zudem vor eine schwierige Aufgabe bei der Fertigung, so Stephan Mauer: „Bei der Membran selbst ist vor allem der präzise mechanische Zuschnitt die Herausforderung, denn anders als bei klassischen Kondensatorkapseln ist hier ja die gesamte Membranfläche elektrisch wirksam. Unsauberkeiten haben direkten Einfluss auf den Klang und müssen vermieden werden. Laserverfahren kommen einem in den Sinn, aber das Lasern würde die Ladung der Elektretfolie zerstören, also mussten wir neue Verfahren entwickeln.“
Die Benennung der Kapsel gibt einen Hinweis, für welche Richtcharakteristik Neumann sich entschied: Die zweistellige Nomenklatur mit führender „1“ weist auf den Elektret-Aufbau im Neumann-Angebot hin, die „4“ steht für „Niere“, wobei man sich offensichtlich nicht am Dogma „irgendwie möglichst eng ist optimal“ orientierte: „Das Mikrofon muss auf lauten Bühnen einzelne Instrumente isolieren und benachbarte Schallquellen unterdrücken. Das erfordert natürlich eine Richtwirkung. Deswegen haben wir mit Niere, Superniere und auch anderen, exotischeren Richtwirkungen experimentiert. Nach umfangreichen Praxistests haben wir schließlich in der Nierencharakteristik die für uns optimale Kombination aus klanglicher Offenheit und der geforderten Richtwirkung gefunden. Gegenüber anderen Lösungen im Markt hat die KK 14 ein sehr konstantes Richtverhalten über den gesamten Frequenzbereich, so dass wir eine sehr gute Isolation auch im Grundtonbereich erreichen.“
Zum Image eines respektierten Toningenieurs gehört es ja eigentlich, aus einer großen Vielfalt edler Mikrofone in einem mit dem Künstler zelebrierten Prozess das optimale Mikrofon zu erwählen. An der Quelle wird definiert, welche Wirkung im Mix hörbar wird. Im Live-Betrieb findet dies seine Grenzen. Die Zeit ist knapp, die Rahmenbedingungen ruppig und das Budget eng. Mikrofone werden oft in großen Stückzahlen vorgehalten und sind idealerweise universeller einsetzbar. Das hat auch Auswirkungen auf die klangliche Abstimmung des Wandlers, wie sie Stephan Mauer benennt: „Das Mikrofon muss für die Nahabnahme von zum Beispiel Saxophon, Cello und Snare gleichermaßen überzeugende Ergebnisse auf Referenzniveau liefern und das Ganze möglichst ohne die Notwendigkeit eines zusätzlichen EQings. Deswegen haben wir auf klangliche Neutralität abgestimmt und besonders beachtet, dass es keine problematischen, resonanten, hart klingenden Frequenzbereiche gibt. Ein spezielles Augenmerk haben wir dabei auf den Grundtonbereich der Instrumente gelegt.“
Das Mikrofon soll daher einerseits extrem hohe Schalldrücke verkraften, besitzt aber ein nur sehr niedriges Eigenrauschen, das von den Entwicklern an der Grenze des technisch Machbaren eingeordnet wird.
Wie diese beiden Eckpfeiler am Dynamikspektrum erreicht wurden, zumal ja auch die Stromversorgung beim Senderbetrieb kompromissbehaftet ist, lässt Stephan Mauer nur leicht durchblicken: „Die erreichten Leistungswerte des Systems sind das Ergebnis einer hervorragend abgestimmten Kombination von Akustik- und Elektronikdesign. Einerseits erlaubt der – im Vergleich zu vielen anderen Elektretlösungen – relativ große Membrandurchmesser ein wohlwollendes Rauschverhalten, zum anderen erreichen wir eine hohe Empfindlichkeit. Zusätzlich ist es im Schaltungsdesign gelungen, eine Kombination aus Rauscharmut und sehr hoher Aussteuerung zu realisieren. Das Mikrofon profitiert da maßgeblich von der jahrzehntelangen Erfahrung der Neumann-Entwicklung im Schaltungsdesign und penibel ausgesuchten Bauteilen. Hier sind einige Kunstgriffe erforderlich, die wir aber natürlich nicht preisgeben wollen.“
Wer kennt nicht Trickserei, auf der Bühne zwischen Stativen, Instrumenten, Monitoren noch die Mikrofone überhaupt standsicher gestellt zu bekommen? Sie dabei auch so zu befestigen, dass sie nicht das Spiel behindern oder gar die Musiker eine Schockattacke bekommen, weil man mit improvisierter Klemmerei dem wertvollen Instrument zu Leibe rückt? Ralf Oehl konnte hier auf die Kooperation mit dem Mutterhaus Sennheiser zurückgreifen: „Die Kapsel ist eine von Grund auf eigenständige Neumann-Entwicklung mit spezifischer Konstruktion und verwendet z. B. ein Membranmaterial, das im Sennheiser-Portfolio gar nicht vorkommt. Die Kollegen von Sennheiser haben ihre Erfahrungen besonders bei der Entwicklung der Instrumentenklemmen eingebracht, weil es dabei einen Erfahrungsvorsprung gab.“
Schaut man sich die aktuell neun Halterungen für die Befestigung an Blas-, Streich- und Saiteninstrumenten über Piano bis zu Drums und Percussion an, entdeckt man viel kleine Details, die den Alltag erleichtern. Auch dies ist keine einfache Entwicklungsarbeit, denn jedes Element bis zur kleinen Brücke, die die Kapsel hält, muss von Material bis Formgebung gleichzeitig richtig federnd oder steif, robust und langlebig sein. Die Kapsel (sie soll 279 Euro kosten) gibt es daher in diversen Sets, die dann zusätzlich Schwanenhals, Kabel, Befestigungssystem, XLR-Adapter und Windschutz enthalten und incl. Kapsel bei 629 Euro beginnen.
Das Clip- Mic-System ist damit übrigens auch die erste Produktgruppe, welche Neumann nativ für alle gängigen Funkstrecken anbietet, damit also auch für Shure-Wireless.
Das beste Produkt mit himmlischen Klangeigenschaften nützt aber nichts, wenn es im hektischen und manchmal ruppigen Bühnenalltag – von der mechanischen bis klimatischen Belastung – kein verlässlicher Partner ist. Dessen war sich Neumann bei der Entwicklung bewusst, bestätigt Stephan Mauer: „Zum einen ist das System mechanisch optimiert: ein superstabiles Kapselgehäuse aus Titan macht die Kapsel nicht nur leicht, sondern schützt auch vor Beschädigung. In die Kabel eingewobene Kevlarfasern sorgen für hohe Reißfestigkeit. Das Mikrofon funktioniert auch bei tropischen Bedingungen und übersteht sogar einen Tauchgang – nach dem Trocknen spielt es wieder wie vorher!“ Dem kommt auch der konzeptionell modulare Aufbau entgegen, bei Bedarf kann die Kapsel leicht von dem Schwanenhals abgeschraubt werden. Auch alle weiteren Komponenten sind leicht austauschbar. „Das sind gute Voraussetzungen dafür, dass so ein System viele Spielzeiten im Einsatz bleibt und damit einen sehr guten Return on Investment liefert.“
Das gebündelte Knowhow aus der jahrzehntelangen Entwicklung hochwertiger Schallwandler, beste Kooperationen mit Markt und Anwendern – ist es eigentlich eine Art Selbstverständlichkeit, dass es nun so ein Mikrofon von Neumann gibt, fragen wir zum Abschluss Ralf Oehl: „Ich glaube, für das ganze Team sprechen zu können: Das Miniature Clip Microphone ist etwas ganz besonderes, ein großer Schritt für Neumann. Es eröffnet ein vollkommen neues Segment in unserem Produktportfolio mit einer neuen Kapseltechnologie und ist komplett als System gedacht, mit einem starken Schwerpunkt auf der Mechanik und dem Zubehör. Wir haben uns viel Zeit genommen, vieles neu gedacht und neu gelernt und sind stolz, dieses Mikrofon realisiert zu haben. Wir glauben, dass es zu einer neuen Referenz wird, und sehen es als den Beginn eines starken Engagements von Neumann im Live-Bereich.“