Loveparade-Prozess: 15 Meter Prozessakten – und noch immer kein Urteil
von Kai Abrell,
Die Loveparade markiert einen traurigen Meilenstein in der deutschen Veranstaltungsgeschichte – mit spürbaren Auswirkungen auf die gesamte Branche. Seit Jahren läuft nun schon der Prozess, der die Ursachen und die Schuldigen für das tragische Ende der früher so beliebten Techno-Veranstaltung aufdecken soll. Doch auch nach über 100 Prozesstagen ist noch kein Urteil in Sicht
Die Loveparade 2010 endete tödlich: 21 Menschen starben, 652 wurden teils schwer verletzt, umzählige traumatisiert. Es gab keine auslösenden unfallartigen Ereignisse wie Brände, zusammenbrechende Tribünen, plötzliche Unwetter oder gewaltsame Angriffe. Die Opfer kamen zu Schaden bei normalem und ungestörtem Betrieb der Versammlungsstätte. Bevölkerung und Fachleute hatten von Anfang an den Verdacht, dass Entwurf und Bauausführung der Versammlungsstätte fehlerhaft waren genauso wie Organisation, Entscheidungen und Verhalten aller Beteiligten. Die oft benutzte Bezeichnung Massenpanik als Ursache war falsch, die Opfer wurden im Gedränge eines falsch entworfenen Einlass-Systems erdrückt. Beide Gerichtsgutachter haben schuldhaftes Verhalten der Besucher als Ursache inzwischen ausgeschlossen.
Das bis zu diesem Zeitpunkt sehr beliebte Techno-Event wurde im Jahr 2010 zu einer Marketingveranstaltung der Lopavent GmbH des McFit Eigentümers Rainer Schaller. Außerdem war die Loveparade Teil des Programms der Europäischen Kulturhauptstadt 2010, das zum ersten Mal von einer ganzen Region ausgetragen wurde: dem Ruhrgebiet. Beteiligt waren die Wirtschaftsförderung Metropoleruhr Gmbh und die Ruhr.2010 GmbH, hierüber mittelbar der Regionalverband Ruhr, das Land NRW und der Initiativkreis Ruhr mit vielen namhaften Industriekonzernen als Mitglieder. Die Veranstaltung fand auf dem ehemaligen Güterbahnhof Duisburg GbF statt – im Eigentum der Aurelis Real Estate GmbH & Co. KG, die auch andere Immobilien der DB AG verwertet hat.
Veranstaltungen mit mehr als 5.000 Besuchern haben schon durch ihre Größe spezifische Risiken. Die Menge der Besucher verlangt eine ausgeklügelte Gestaltung und einen besonders gut organisierten Betrieb der Versammlungsstätte. Es muss jederzeit sichergestellt sein, dass kein Bereich überfüllt wird und bei Gefahr jederzeit die Besuchermengen kontrolliert in sichere Bereiche evakuiert werden können. Unglücke mit großen Opferzahlen bei Konzerten, Volksfesten, Sportereignissen, religiösen Feiern und Theaterbränden sind nicht selten – diese Risiken sind in der Branche bekannt.
2010 galt in Duisburg die Sonderbauverordnung NRW 2009 in Nachfolge der vorherigen Versammlungsstättenverordnung. Neben dem Veranstalter Lopavent waren verschiedene Behörden aus NRW maßgeblich an der Planung, Genehmigung und Durchführung der Loveparade 2010 beteiligt: Bauamt Duisburg, Ordnungsamt Duisburg, Landespolizei, Bundespolizei, Feuerwehr.
Nach dem tragischen Ausgang der Loveparade dauerte es noch mehrere Jahre, bis ein Verfahren eingeleitet wurde. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde vom Landtag NRW mehrfach abgelehnt. Schlussendlich ermittelte eine 60-köpfige Sonderkommission der Kölner Polizei fast vier Jahre lang im Auftrag der Staatsanwaltschaft Duisburg, befragte mehr als 3.000 Zeugen und erhob 2014 Anklage.
Zur Analyse des Unglücks verpflichtete die Staatsanwaltschaft zunächst Prof. Dr. G. Keith Still von der Universität Manchester, der dort Crowd Safety and Risk Analysis unterrichtet. Man muss dazu wissen: Britisches und deutsches Rechtssystem unterscheiden sich wesentlich. Common Law hat einen anderen Begriff von Schuld und andere Vorstellungen, wie ein Gerichtsgutachter zu arbeiten hat. Prof. Stills Gutachten ist kurz und bündig – und sehr lesenswert. Er weist nach, dass die Gestaltung des Einlasses mit Tunnel und Rampe für die geplante Anzahl an Besuchern ungeeignet war und dass der Veranstalter kein Risikomanagement hatte. Damit war das Unglück unvermeidbar. Der Nachweis dieser Versäumnisse würde im Common Law für ein Urteil gegen Veranstalter und genehmigende Behörden reichen. Im Gegensatz dazu muss in Deutschland die individuelle Schuld, die objektive Vorhersagbarkeit der Folgen und der persönliche Tatanteil jedes einzelnen Angeklagten nachgewiesen werden. Das Landgericht Duisburg lehnte deswegen nach zwei Jahren Prüfung im Jahr 2016 die Eröffnung des Verfahrens ab. Staatsanwaltschaft und Nebenkläger legten Beschwerde ein. Daraufhin ließ das Oberlandesgericht Düsseldorf im April 2017 die Klage zu.
Das Verfahren wird seitdem vor einer anderen Kammer des Landgerichts Duisburg geführt. Zusätzlich zu den zehn Angeklagten, 30 Strafverteidigern, ca. 60 Nebenklägern nebst Anwälten, drei Richtern, zwei Schöffen, Ersatzrichtern und Ersatzschöffen sind im Gerichtssaal viele Zuschauer und Journalisten anwesend. Der Prozess wird daher im Congress Center Düsseldorf geführt.
Angeklagt sind sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg, darunter ein Beigeordneter sowie aus dem Bauamt der Amtsleiter, Abteilungsleiter, Sachgebietsleiter und ein Sachbearbeiter.
Dazu vier Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent: der Gesamtleiter, ein Beleuchtungsmeister als technischer Leiter, ein Veranstaltungskaufmann als Produktionsleiter und der Sicherheitsverantwortliche. Alle Angeklagten haben bisher zur Sache geschwiegen. Dies ist ihr gutes Recht, denn niemand muss sich selbst belasten. Auch die interne Organisation des Veranstalters ist unklar, die Befugnisse und Dienstpflichten der einzelnen Mitarbeiter von Lopavent nicht eindeutig dokumentiert. Daher sind alle Zeugen befragt worden, ob sie über diese internen Strukturen des Veranstalters etwas sagen können. Bei allen Zeugen zeigt sich, dass in den vielen Jahren bis zum Prozess Erinnerungen abgenommen haben. Dennoch gab es viele eindrucksvolle Zeugenaussagen:
Vernommen wurden bisher vor allem Polizeibeamte. Diese schilderten minutiös die interne Struktur der Polizeiorganisation am Veranstaltungstag, die (gut dokumentierten) Befehle und den Ablauf der Veranstaltung: Die Funkkommunikation der Polizei am Veranstaltungstag sowie die Diensthandys waren über Stunden gestört – zum Teil wurde mit hochgehaltenen Papp-Tafeln kommuniziert. Lagemeldungen der Polizei mussten zuerst von fünf Vorgesetzten unterschrieben werden, bevor sie dann, natürlich erst sehr spät, an die Einsatzkräfte abgesetzt wurden.
Die eingesetzten Hundertschaften wurden über allgemein gehaltene Aufträge geführt, die Hundertschaften-Führer konnten somit in ihrem Bereich lageabhängig frei entscheiden. Die Einsatzplanung enthielt keine Hinweise, wie Beamte mit Fahrzeugen die Veranstaltung erreichen sollten, ohne durch die Besucherströme fahren zu müssen. Fahrzeuge wurden geparkt um sie gegebenenfalls als Sperre einsetzen zu können – am Veranstaltungstag selbst waren die Fahrzeuge im Publikumsbereich jedoch schädlich. Außerdem wurde klar, dass die Polizeibeamten kaum Kontakt zu den Angeklagten von Veranstalter oder Bauamt hatten.
Die Verantwortlichen an den Vereinzelungsanlagen sagten aus, dass dort zu wenig Ordner vor Ort waren und die Einlässe am Veranstaltungstag mit Kabelbindern und Klebeband zuerst noch geflickt werden mussten. Außerdem waren dort zu wenig Müllcontainer vorhanden, so dass sich durch die Beschlagnahmung von mitgebrachten Getränken und Gefäßen der Besucher schnell große Mengen Glas am Boden sammelten, was eine zusätzliche Gefahrenquelle darstellte. Bei der Aufforderung des Crowd Managers, den Zulauf zu stoppen, war den Zuständigen dies nicht möglich.
Für die Planung des Veranstaltungsgeländes wurden im Vorfeld der Veranstaltung zwei Auftragsgutachter eingeschaltet. Dabei stellte sich heraus: Es war nur ein Drittel der nach MVStättVO und SBauVO NRW notwendigen Notausgänge vorhanden. Im Tunnel und auf der Rampe aus dem Tunnel heraus – dem späteren Unglücksort – waren Rettungswege baulich unmöglich. Im Gericht wurde die Bauplanung auf großen Videoleinwänden präsentiert. Unter anderem zeigte sich, dass auf die Planierung der Fahrstrecke der Musik-Floats mehr Wert gelegt wurde, als auf die Publikumsflächen – auf den gezeigten Videos wurde dies beeindruckend deutlich, als große Baumaschinen beim Befahren des Publikumsbereiches kräftig durchgeschüttelt wurden. Laut einer Empfehlung aus dem Bauministerium NRW kann mit gutachterlicher Bestätigung von geltendem Baurecht abgewichen werden …
Die Gutachter sollten neben der Geländebeurteilung eine sichere Evakuierung im Notfall und die Sicherheit der Veranstaltung bestätigen. Laut Veröffentlichung der Gutachter ist aber das während der Planung angewandte Simulationsverfahren nicht valid für hohe Dichten in Menschenmengen. Der Zweitgutachter sagte vor Gericht außerdem aus, er habe entgegen dem schriftlichen Auftrag seine Tätigkeit als unverbindliche Beratung verstanden. Über die Gutachten hinaus stellte das Bauamt weitere Forderungen, z.B. nach einer elektroakustischen Alarmierungsanlage (ELA) für die Besucher.
Trotz all dieser Mängel wurde die Versammlungsstätte am Tag vor der Veranstaltung genehmigt. Von Seiten der Behörde wurde dem Veranstalter mitgeteilt, dass man weder eine Bauabnahme durchführen noch die Erfüllung der Auflagen kontrollieren werde. Mit einer Stunde Verspätung startete die Loveparade am 24. Juli 2010 – trotz schlechter Bodenbeschaffenheit, fehlender elektroakustischer Anlage (ELA) für Durchsagen, zu schmal ausgeführter Rampe, ungenügenden Vereinzelungsanlagen uvm.
Nachdem das erste Gutachten erhebliche Mängel aufwies, wurde Prof. Dr. Ing. Jürgen Gerlach von der Universität Wuppertal mit einem neuen Gutachten beauftragt. Dieses liegt allen Verfahrensbeteiligten seit Dezember 2018 vor und ist auch Journalisten bekannt. Da dieses aber noch nicht im Prozess eingeführt ist, darf daraus nicht zitiert werden. Seine Analyse umfasst mit allen Quellen, Verweisen und Dokumentation der Gutachtertätigkeit knapp 3.800 Seiten. Die Gesamtprozessakte ist noch größer und umfasst etwa 110.000 Seiten – das sind über 15 Regalmeter.
Das Gutachten von Prof. Dr. Gerlach zu Planung, Genehmigung, Abnahme und Ereignissen am Tag der Veranstaltung hat umfangreiche neue Erkenntnisse ergeben. Hieraus ließen sich konkrete Maßnahmen für die zukünftige Planung von Großveranstaltungen und zur Prävention solcher Unglücke ziehen. Seit 2010 gab es zwar bereits einige Ministeriumserlasse zur Veranstaltungssicherheit und Veränderungen im Veranstaltungsrecht – Politik und Verwaltung haben hier jedoch entschieden ohne die Ursachen der Loveparade- Katastrophe zu kennen. Eine Veröffentlichung des Gutachtens mit der detaillierten Analyse ist daher dringend notwendig.
Das zuständige Gericht sieht das Unglück bei der Loveparade als komplexes multikausales Geschehen, verursacht durch eine Vielzahl an Personen. Es sei nicht unwahrscheinlich, dass den Angeklagten ursächliche Fehler für den Tod der 21 Opfer nachgewiesen werden könnten. Die strafrechtliche Schuld sei voraussichtlich aber nur als gering oder mittelschwer anzusehen. Strafmindernd sei außerdem zu werten: die lange Zeit seit dem Unglück, die Unbescholtenheit der Angeklagten, die Verpflichtung der Angeklagten, koordiniert mit mehreren Ämtern zusammen arbeiten zu müssen, Mängel in der Gesetzeslage, die Normalität von Sicherheitsmängeln bei Großveranstaltungen bis 2010 sowie ein nicht mehr vorhandenes öffentliches Interesse. Außerdem sei die sogenannte Generalprävention nicht nötig, also denjenigen mit Strafe zu drohen, die sich nicht an geltendes Recht wie die Versammlungsstättenverordnungen halten.
»Das zuständige Gericht sieht das Unglück bei der Loveparade als komplexes multikausales Geschehen, verursacht durch eine Vielzahl an Personen.«
Trotz aller Versäumnisse hätten die Angeklagten eine sichere Veranstaltung gewollt. Daher hat das Gericht am 16. Januar allen Angeklagten eine Einstellung des Verfahrens nach §153 bzw. §153a StPO angeboten. Ein Teil der Nebenkläger widerspricht der Argumentation des Gerichts. Die Sonderbauverordnung NRW sei ausreichend gewesen, um eine sichere Veranstaltung durchzuführen, wenn man sie angewendet hätte. Es gäbe nach wie vor ein öffentliches Interesse. Ein abschließendes Urteil sei zur Klärung von Verantwortung und Sorgfaltspflichten notwendig. Die Staatsanwaltschaft sieht die Vorwürfe der Anklage als bestätigt an, auch wenn nicht angeklagte Mitarbeiter bei Polizei, Feuerwehr und Ordnungsamt ebenfalls Fehler gemacht hätten. Das unveröffentlichte Gerichtsgutachten kläre die Sachverhalte auf. Es habe kein Augenblicksversagen gegeben, deswegen liege eben keine geringe Schuld vor. Trotzdem stimme man einer Einstellung aller Verfahren unter Auflagen zu.
Mit diesem Angebot konnten sich die zehn Angeklagten entscheiden, ob sie den Deal eingehen. Sieben haben dem zugestimmt: die Verfahren gegen die Mitarbeiter des Bauamtes und einen leitenden Angestellten der Lopavent GmbH sind eingestellt. Seit Februar 2019 wird nun also nur noch gegen die übrigen drei Angeklagten – Mitarbeiter des Veranstalters der technische Leiter, der Produktionsleiter und der Sicherheitsverantwortliche der Loveparade 2010 – verhandelt, die sich gegen die Einstellung des Verfahrens ausgesprochen haben.
Durch das Einstellen des Verfahrens gegen die sieben ehemaligen Angeklagten entfällt deren Zeugnisverweigerungsrecht. Sie wären daher wertvolle Zeugen für die weitere Verhandlung und das Gericht könnte mehr über die tatsächlichen Abläufe beim Veranstalter und im Bauamt erfahren. Urteile gegen Management, veranstaltende Kommunalpolitik und Behörden sind nun ohnehin nicht mehr möglich, die operativ tätigen Mitarbeiter bleiben als Letzte in der strafrechtlichen Verantwortung – ein endgültiges Urteil ist allerdings ungewiss. Das Gericht sprach von etwa 500 weiteren möglichen Zeugen … Damit würde der Prozess im Juli 2020 enden – durch Verjährung und voraussichtlich ohne Urteil.