Musical gratuliert Technik-Crew

20.000 Drehungen im 360°-Musical: Soldaat van Oranje


Das Leben unter der deutschen Besatzung, die dadurch aufbrechenden Konflikte in einer jungen Studentengemeinschaft und der abenteuerliche Lebensweg Erik Hazelhoff Roelfzemas sind seit dem 10. 10. 2010 Themen eines aufwändigen Musicals bei Amsterdam. Eine 360°-Bühne, die vollständige Drehung des kompletten Publikums und innovative Audiotechnik helfen, das schwere Thema eindrücklich und im wahrsten Sinne des Wortes „dynamisch“ zu vermitteln. 2016 feierten die Schauspieler ein besonderes Jubiläum: Sie bedankten sich bei der Technik-Crew für 20.000 Tribünendrehungen, während derer der ganze Aufbau 3000 km zurücklegte! Verlängert ist nun nochmal bis Sommer 2019

Wenn bei unseren niederländischen Nachbarn die Farbe „orange“ – eine Reminiszenz an das Königshaus Oranien – ins Spiel kommt, weiß man: Jetzt geht es um wichtige nationale Fragen. Vor rund 70 Jahren bewegten die Bevölkerung aber andere Probleme als die Aufstellung einer Fußball-National- mannschaft; der Krieg überrollte die Nieder- lande mit dem deutschen Angriff und der Besetzung ab 1940. Die Lebensbedingungen veränderten auch drastisch Perspektiven und Alltag von Jugendlichen und Studenten. Einer von ihnen, Erik Hazelhoff Roelfzema, fasste seine Erlebnisse nach dem Krieg in dem Buch „Soldaat van Oranje“ zusammen. Ein 1977 veröffentlichter Kinofilm griff nochmals Person und Thema auf und ist in den Niederlanden allgemein bekannt.

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Auf dem Flugplatz Valkenburg bei Katwijk, leicht südwestlich von Amsterdam gelegen, dient die Person des 2007 verstorbenen Hazelhoff nun als Kristallisationspunkt des Musicals „Soldaat van Oranje“, das Ende Oktober 2010 Premiere feierte. Das seit einigen Jahren ungenutzte Areal bietet nicht nur ausreichende Flächen, sondern ist durch seine Lage bei der Stadt Leiden, in der etliche Szenen spielen, auch in gewisser Weise historisch eingebunden.

Anpassung oder Widerstand?

Die bewegte Lebensgeschichte Hazelhoffs ist in wenigen Sätzen kaum nachzuzeichnen, aber einige Eckpunkte machen deutlich, welche Schwerpunkte durch das von der Investorengemeinschaft unter dem Namen „New Productions B.V.“ auf den Weg gebrachte Musical kommuniziert werden sollen: Der auf Java geborene Hazelhoff arbeitete bereits vor dem zweiten Weltkrieg als junger Autor, nach verschiedenen Reisen nahm er ein Studium in Leiden auf. Mitten in diese dynamische Studentenzeit fällt dann plötzlich die deutsche Besatzung. Sie stellt die Anfang-20- jährigen vor über ihren Tod oder Leben entscheidende Fragen und führt schließlich zu einer Zersplitterung des Freundeskreises in Widerstandskämpfer, Gleichgültige und Kollaborateure. Hazelhoff entscheidet sich für den Widerstand, setzt sich nach England ab und beteiligt sich am Aufbau einer Widerstandsgruppe. Dieses Unternehmen endet nicht nur erfolgslos, sondern im Fiasko, und er lässt sich als neue Aufgabe in Kanada zum Piloten ausbilden. Für die Royal Air Force begleitet er dann innerhalb einer vorausei- lenden Eliteeinheit die Bombardierung deutscher Städte, wird Adjutant der (samt Exilregierung ebenfalls in England weilenden) niederländischen Königin und fliegt schließlich nach Kriegsende die Monarchenfamilie in ihr befreites Heimatland zurück.

Soldaat van Oranje
Das Publikum wird zu den rundum gebauten Szenen gedreht, die alternativ oder gleichzeitig geöffnet sind, auf die verfahrbare Verblendung (links) wird projiziert (Bild: Detlef Hoepfner)

Komplexe 360°-Bühne für vielschichtige Story

Für Regisseur Theu Boermans waren also nicht nur eine schwere Geschichte sowie ein gewisses Maß an Action umzusetzen, sondern auch eine Vielzahl an Spielorten darzustellen. Nebenbei musste noch im Kopf behalten werden, dass einem Großteil der Zuschauer viele Szenen bereits aus dem Buch oder Film bekannt sein dürfte. Da man als Standort des Musicals den ehemaligen Flugplatz wählte und auch keine vorgegebene Theaterinfrastruktur Raumgrenzen setzte, entschied man sich für eine bühnentech- nisch weltweit einmalige Lösung: Statt von Szene zu Szene schnell die Bühne umzubauen (und die Bühnenbilder entsprechend kompromissbehaftet anzulegen), sind die einzelnen Bühnenbilder kreisförmig rund um die Zuschauer quasi übergangslos neben- und ineinander gesetzt. Der eigentliche Trick ist dann die Drehbarkeit der gesamten Zuschauerfläche: Die 1.131 leicht ansteigend montierten Theatersessel befinden sich auf einer riesigen Drehscheibe.

Zu Beginn der Vorstellung öffnet sich ganz gewohnt vor den Zuschauern ein Bühnenbild; meist seitlich erweitert durch Projektionen auf die verschiebbaren Blenden. Beim Szenenwechsel dann plötzlich beginnt sich das komplette Publi- kum unmerklich zu drehen, bis es vor dem nächsten sich öffnenden Bühnenbild steht. Das allein wäre dann doch etwas viel Aufwand für einen kleinen Effekt? Wenn man die vielen einzelnen Szenen betrachtet, haben sie – bei allem Respekt vor dem bekannten Theaterbühnenbau – mit den üblichen Aufbauten wenig gemein: Um die Zerrissenheit und Widersprüche zwischen den Studenten optisch zu unterstützen, erscheint vor den Zuschauern ein riesiger, zweistöckiger Wohnblock, dessen offene Zimmer, Gänge und Treppen viel Raum für intensive Bilder und komplexe Handlungsabläufe bieten.

Wenn der Palast der Königin erscheint, dann bietet dieser wirklich Raum, und die Krönung – wenn man das so sagen darf – ist dann natürlich ein nachgebauter Küstenabschnitt. Mit Sand, mit Wasser, mit Wellen – richtigen Wellen. Und ohne nun dem Erlebnis eines eigenen Besuchs zu viel vorwegzunehmen: Thema in der Tagespresse unseres Nachbarlandes war beim Bau des Musicals auch ein unangenehmer Transportschaden an einem der Ausstattungsdetails – einer originalen zweimotorigen Dakota C47, der Militärversion der Douglas DC-3. Also man hat Platz, und man nutzt ihn großzügig.

Soldaat van Oranje
Eine der Bühnen nimmt das komplette Blickfeld ein: der riesige Strandabschnitt mit seitlich ansteigenden Dünen, echten Wellen und kräftiger Beregnung. Die Brücke über dem Publikum mit Projektoren und Delays wird mitgedreht (Bild: Detlef Hoepfner)

Dynamisierung der Bühnen- Panoramen

Dies folgt aber nicht allein der Maxime „viel hilft viel“, sondern es werden die bühnentechnischen Chancen auch zur Dynamisierung der Bilder genutzt. Während das Publikum seitlich verfahren wird, wird der Handlungsablauf nicht unbedingt unterbrochen. Die Darsteller laufen teilweise – weiter sprechend oder singend – mit dem Publikum mit, so dass fast eher der Eindruck ent- steht, die Kulisse würde um einen herum gedreht statt umgekehrt. Oder es kommen einem plötzlich in der Drehung die Hauptdarsteller auf Motorrädern entgegen, alles unterstützt durch Wings-Platinum-Projektionen von geschichtsbezogenem Film- und Fotomaterial, logoartigen Texten und flächigen Visuals. Szenenbilder werden dann durch das gleichzeitige Öffnen mehrerer Räume gekoppelt und bilden neue Motive; schließlich entstehen dramatische Panoramen: In einem Augenwinkel hat man eine triste Straßenszene, vor sich ein Geschehen in den Räumen der Studentenwohnungen, und noch weiter seit- lich stirbt eine verratene Studentin im KZ.

Soldaat van Oranje
Regisseur Theu Boermans, Jeroen ten Brinke und Jos Diergaarde bei einer der vie- len Detailabstimmungen zwischen Drehung, Projektion und Ton (Bild: Detlef Hoepfner)

Der Dreh mit dem Ton

Für das Sound-Design verpflichtete die Produktionsfirma Jeroen ten Brinke, der seit vielen Jahren in Musical-Kreisen erfolgreiche Arbeit leistet: Seine Referenzliste umfasst nicht nur holländische und deutsche Produktionen wie Titanic, Beauty & the Beast, Elisabeth oder 42nd Street, son- dern auch Projekte in ganz Europa und in den USA. Eine solche Prestigeproduktion im eigenen Land, ungewöhnlich weite Freiheiten bei der Umsetzung der Technik und ein stabiles Commitment zu deren Finanzie- rung – natürlich auch für Jeroen eine reizvolle Aufgabe: „Es macht absolut Spaß, an so einem riesigen Projekt mitzuarbeiten, bei dem man weiß: Man geht jetzt ein Risiko ein, indem man neue Wege ausprobiert. Soweit ich weiß, hat bisher noch niemand so ein neuartiges Setup realisiert. Aber die Unterstützung durch die vielen verschiedenen Firmen ist auch riesig gewesen.“

Am Anfang des Audiokonzeptes stand die Frage: Wie lässt sich eine derartige, sich ständig in Bewegung befindende Beziehung Publikum/Bühne adäquat beschallen? Naheliegend war die Idee, die Hauptbeschallung fest mit der Publikumsfläche zu verkoppeln und dadurch einfach immer mitzudrehen. Über dem Publikum gibt es sowieso schon eine Brücke für weitere Technik wie die Projektoren. Man hätte aber recht lange Ausleger von dort bis zur Vorderkante der Bühnenbilder gebraucht, was technisch und statisch zu schwierig geworden wäre. Jeroen ten Brinke: „Also begann ich, im CAD-Programm mit 8 bis 20 Clustern rund um den ganzen Kreis zu spielen. Es stellte sich heraus, dass wir mit 14 alle wichtigen Flächen abdecken würden.“ An der mitdrehenden Brücke über dem Publikum gibt es daher nur noch als kleine Delay-Stütze drei Left/Center/Right-Arrays. An die Lautsprecher wurde als Anforderung gestellt, eine optimale Klarheit und Dynamik zu liefern und dabei auch Richtungsinformationen gut aufzulösen. Jeroen wurde 2005 auf Alcons Audio aufmerksam, als ihm bei einer Produktion in der Pepsi Stage Amsterdam ein Setup aus LR14 begegnete, dessen Einsatz er auf den ersten Blick angesichts der Abmessungen recht couragiert fand. Er war dann begeistert von der dort realisierten, recht „fetten“ Produktion und den nach eigenen Worten „wundervollen, elektrostatischen Höhen“. Daraufhin setzte er selbst Lautsprecher des Herstellers erstmals bei Beauty and the Beast ein, einer Produktion, bei der das Material nicht bereits über mit eingekaufte Sound Specs im Voraus festgelegt war. Seit- dem gibt es einen regen Erfahrungsaustausch bezüglich weiterer Sound Designs zwischen ihm und dem R&D von Alcons Audio. Auch der Konzeptionierung von Soldaat van Oranje gingen etliche Testaufbauten und viele nächtliche Rücksprachen voraus. Man kann sich vorstellen, dass Jeroen für weitere Projekte auch gespannt den kommenden Digitalendstufen und Großbeschallungssystemen des Herstellers entgegensieht.

Soldaat van Oranje
Über zwei iPads werden ein Sender-PFL und auch eine Havarie-Steuerung des Tons ermöglicht, sollte sich der komplette FOH-Platz verabschieden (Bild: Detlef Hoepfner)

Jeroen verlässt sich daher bei der Publikumsbeschallung auf 14 Line-Arrays von Alcons Audio mit je sechs Modulen LR14, an der Brücke gibt es weitere 3 × 3 LR14. Das Amping übernehmen ebenfalls Systemverstärker von Alcons Audio, hier arbeiten 30 Stück ALC4 mit 2 × 2 kW. Um zusätzliche A/D/A-Wandlungen zu vermeiden, wurden diese mit den analogen SDP-Varianten der Alcons-Controller-Karten ausgestattet. Bei solch einer Vielzahl an Line-Arrays neben- einander droht etwas die Gefahr uner- wünschter Interaktionen. Jeroen: „Die gibt es natürlich, aber uns hilft, dass die Arrays mindestens acht Meter auseinander hän- gen, und wir versuchen die Nebeneffekte auf einem Minimum zu halten. Es ist gut, dass die Arrays horizontal wirklich 120 Grad machen, das hilft uns, nicht zu oft aus den -6 dB-Zonen heraus zu geraten.“

Aus dem Bestand der ausführenden Firma Focus wurde jedem Line-Array, dessen Module jeweils mit einem RBN401 Pro- Ribbon sowie zwei 6,5″-Chassis arbeiten, als Ergänzung bis 80 Hz eine 2 × 15″-Box zur Seite gestellt. Weitere echte Subs – aus Platzgründen unterhalb des Publikums, also mitgedreht – übernehmen die 80 Hz bis 30 Hz. Angesteuert werden sie über eine Matrix, um quellenabhängig Soundeffekte und das Orchester zu unterstützen. Die Länge der 14 Line-Arrays richtete sich auch nach der Anforderung, die Sichtlinien zu erhalten, in den allerersten beiden Sitzreihen rechnete man daher mit einem leichten Pegelabfall. Um ihn zu kompensieren, integrierte Jeroen dort zwischen alle Sitze praktisch unsichtbare Miniaturbreitbänder von Visaton.

Nach der Simulation und dem Aufbau erfolgte das Tuning der Anlage durch Jeroen: „Das mache ich gerne rein nach Gehör. Es ist ausgesprochen einfach, alle Cluster auf gleichen Klang einzustellen – wir set- zen uns in einen der Sessel und verfahren uns während des Hörens zum nächsten Line-Array. Es ist also sehr einfach, sie gleich hinzubekommen. Die Lautsprecher benötigen sowieso nur wenig EQ, weil sie von Natur aus so sehr clean sind.“

Da der FOH-Platz – sinnvollerweise und Musical-typisch – mitten im Publikum platziert ist, waren hier einige Recherchen nötig, um seine Anbindung an die Infrastruktur umzusetzen. Die Bühne dreht sich schließlich nicht nur ein wenig hin und her, sondern durchfährt über das gesamte Programm etliche Drehungen. Nach fünf Monaten Suche landete man endlich bei STS und einer Kabelführung, welche die Kabel auf einer Trommel aufrollt und die bis zu 20 komplette Bühnendrehungen erlaubt. Im Script arbeitet die Produktion dementsprechend mit Positionsangaben bis 7.000 Grad, um immer genau zu wissen, „wo man ist“. Von der Drehscheibensteuerung gehen 0-5 Volt zur Show-Automation, die dann Mixe, Pans, Effekte und Reverbs entsprechend automatisch mitführt.

Eine so große mechanische Konstruktion aus Publikumsbestuhlung, Brücke, FOH usw. wird nicht mal eben mit einer Hand gedreht. Es kommen hier rund 250 Tonnen zusammen und die Antriebsmotoren saugen rund 800 Ampere aus der Stromversorgung. Die musste dafür erst ausreichend dimensioniert und stabilisiert werden, um nicht zu viele Störungen auf dem Stromnetz der Produktion zu verursachen – dass man sich auf einem Flugplatz befindet, bedeutet nicht automatisch, dass auch solche Infrastrukturen von vorneherein ausreichend vorliegen.

Lautsprecher in 360° rundum – gedreht wird das Publikum
Lautsprecher in 360 rundum – gedreht wird das Publikum (Bild: Alcons Audio)

Akustische Ortung aus den Bühnen

Wenn man backstage unterwegs ist und seinen Weg zum FOH gefunden hat (was während der Proben angesichts eines sich dauernd wegdrehenden Zugangs zur Bestuhlung nicht ganz einfach ist), waren hier zum einen Ansammlungen von Apple- Computern zu sichten, als sei man in einem Apple Store. Außerdem aber eine Fülle weiterer Lautsprecher – Jeroen schätzt um die 50 bis 60 – an allen möglichen und unmöglichen Positionen in und über den Kulissen. Sie dienen dem Monitoring der Darsteller, das eine wichtige Rolle spielt – bei den enormen Entfernungen auf und zwischen den Bühnen sind Intonation und Timing für die Künstler nicht trivial. Weitere Quellen dienen der Effektzuspielung: Wenn beispielsweise Königin Wilhelmina die Bevölkerung per Ansage im Röhrenradio anspricht, erschallt ihre Stimme auf der Bühne tatsächlich über einen ins Radio geleiteten Zuspieler. An anderer Stelle tritt eine Sängerin in einer Gesellschaftsszene auf und nutzt dort ein auf alt gemachtes historisches Mikrofon – der in der Bühnensituation erzeugte „Live Sound“ gefiel dem Team wiederum so gut, dass er durch ein weiteres, unsichtbar in die Kulisse integriertes Mikrofon wieder aufgenommen und der Saalbeschallung zugemischt wird.

Soldaat van Oranje
Rückansicht des Theaterhangars: die zweimotorige Dakota C47 wird in die Inszenierung integriert (Bild: Detlef Hoepfner)

Wo ist hier das Mischpult?

Man findet also Unmengen von Computern, über 150 Lautsprecher – aber wo ist das Mischpult? Die Lösung: Es gibt eigentlich gar keins … Eine kleine Yamaha-Digitalkonsole am FOH dient zwar der Abwicklung geplanter zusätzlicher Events im Theater-Hangar. Und zwei weitere Pulte backstage auf den eingemauerten Gitarren-Amps und in der Kulisse mischen den Monitor-/Aviom-Mix der in einem eigenen Raum unter der „Sanddüne“ agierenden Band (weitere Bandauftritte innerhalb der Szenen waren anfangs angedacht, wurden aber aus verschiedenen Gründen noch nicht umgesetzt).

Die eigentliche Audiozentrale aber besteht aus einem D-Mitri-AVB-Netzwerk von Meyer Sound, einer Lösung, die auf Grund der Historie von LCS – die ja von Meyer übernommen wurden – ihre Erfahrungen aus dem Theater- und Show-Control-Markt schöpft. Für Meyer Sound ist dies eine schöne Referenzinstallation in Europa, Jeroen ten Brinke hatte aber vorher auch eine ganze Reihe anderer Konzepte erwogen: Alternativen waren ein Richtungsmischer von Lawo, eine Cadac-Lösung mit in der Matrix integrierter Apogee Symphony oder einer Verbindung (per RME-Karten/MADI) zwischen einer Digico SD7T und Logic.

Vom Konzept her zeigt die gewählte Installation nun in eine Richtung, die sich bei Mischpulten insgesamt abzeichnet – statt der Konzentration auf punktuelle Hardware geht ein Trend (längst nicht erst seit D-Mitri) zu dezentraleren Ansätzen. Bei Soldaat van Oranje laufen ein AVB-Gigabit- Netzwerk plus ein weiteres Netz zur Steuerung der Hardware und zur Anbindung zweier iPads. Dieses Netzwerksetup gibt es dann noch einmal als Havarielösung.

Soldaat van Oranje
Die komplette „Mischpultfunktion“ liegt auf LCS CueConsole-Fader-Panels (Bild: Detlef Hoepfner)

Die D-Mitri-Hardware besteht aus zwei DCP Core Prozessoren, von denen jeder die Audiobearbeitung incl. EQs und Dynamics für 72 Kanäle leistet. Als Matrix ist eine D-Mitri DCM-2 audioseitig per Netgear-Router angebunden, die analogen Inputs nehmen vier dezentral aufgebaute DAI-24 mit je 24 Eingängen entgegen. Drei DAO-24 mit je 24 analogen Ausgängen liefern die Output-Signale. Am FOH finden sich weiter ein AES/EBU-Interface DDIO-24, ange-bunden über einen zweiten Netgear-Router, sowie ein analoges Ausgangsmodul. Ein D-Mitri DGPIO General Purpose I/O liefert Verbindungen zu MIDI, Word Clock usw. Etwas aus dem Rahmen fällt backstage noch der DWTRX Wild Tracks – ein 72-Spur-Recorder/Player, der intern mit zwei gespiegelten SSDs von 160 GB arbeitet, per Web-Browser administriert wird und die vielen Soundeffekte vorhält. Auf dem zweiten Netz zur reinen Steuerung hängen neben der gesamten, bereits genannten Hardware noch Oberflächen zur Administration und die CueConsole-Fadermodule. Gesteuert wird der Show-Ablauf über die Cuestation-Software. Die Drehbewegung des Publikums triggert in Cuestati- on so genannte „Spacemaps“, eine zur Bewegung automatisierte Matrix. Und diese Funktion wird vom Audioteam, das neben Jeroen ten Brinke auch Chiel Blaauw und Jos Diergaarde umfasst (die die Show später eigenverantwortlich weiter fahren werden), heftig genutzt: Der Vorteil des matrixgestützten Konzepts ist das sehr freie Routing aller Signale – jeder Ton kann jederzeit an einem beliebigen Punkt im Theaterhangar erschal-len. Sekunden später kann diese Situation schon wieder komplett anders „verdrahtet“ sein. Blickt man nun einmal während einer Drehbewegung auf die Spacemap, dann wird einem schier schwindelig angesichts der Flut an Audioparametern, die sich in dem Moment dynamisch verändern. Zugriff auf die Kanäle hat man über eine Reihe von Fader-Panels, die am FOH unter der Monitorrei- he montiert sind. Eine Herausfor- derung war aber, dem völlig „nackten“ Setup erst einmal im Laufe eines Monats die gewünschten Mischpultfunktionen einzuprogrammieren. Über das OSC- Protokoll werden alle Pegel, Verzögerungszeiten, Überblendungen, Mutes, Filter usw. getriggert, Python-Skripte dienen der Automation innerhalb der Cuestation-Software.

Davon und einem Intercom abge- sehen sieht man am FOH kaum Outboard-Material, bestätigt Jeroen: „Wir haben dort ja die AES-Einheit mit Ein- und Ausgängen, ursprünglich auch eine VST-Anbindung für Plug-ins. Es klingt jetzt aber auch so mit den 96 kHz / 24 Bit bereits so gut, dass wir kein externes Material benötigen. Die Standardfunktionen sind ja alle integriert: Jeder Eingang, Aux, Bus oder Master hat sei- nen 10-Band-Parametrik-EQ, Noise Gate, Kompressor/Expander und Limiter. Nur die Reverbs waren ein eigenes Thema.“ Für die Raumreflexionen aus Altiverbs nutzt Jeroen vier Sends: Drahtlosmikrofonie, 2 × Band und Soundeffekte. „Audio Ease half uns mit einem Interface, durch das wir die vier Gruppen sehen können, die jeweils sieben ST Reverbs für die 14 Ausgänge zu den Line-Arrays ansprechen. Darüber hinaus haben wir noch 28 weitere, um überblenden zu können – dadurch hören wir die Stummschaltungen nicht, wenn sie Programme wechseln. Insgesamt nutzen wir 56 Altiverbs!“

Abgesehen von den Effekten wird auch der Band-Sound sehr räumlich gemischt: „Wir dachten, es wäre gut, volle 180 Grad abzudecken und legten sieben Auxe fest. Dadurch können wir die ‚Breite‘ des Bandmixes per Cue ändern, wir nennen die Punkte LLL, LL, L, Center, R, RR und RRR.“ Auf einem weiteren Rechner laufen in Nuen- do mehrkanalige Sounds, die speziell beim Drehen der Bühne genutzt werden. „Wir starteten mit 500 Tracks, von denen wir die meisten dann aber verwarfen. Nuendo ist ein sehr praktisches Werkzeug, um Dinge weiter zu editieren, während auch die Filmeinspielungen immer noch verändert wurden.“
Als Havarie-Lösung dient – neben dem einen oder anderen Stapel Kartons mit Ersatz-Hardware – ein per WLAN angebundenes iPad, auf dessen Touchscreen 16 VCAs und ein Next-Button sichtbar sind. Jeroen hofft: „Das sollte reichen, damit man die Leute wenigstens nicht nach Hause schicken muss …“
Eine ganze Reihe praktische Tücken wurde bereits während der Proben und Vor- premieren behoben. Zum einen hieß es für Regie und Crew immer wieder, Abläufe und Bewegungen bei Bühne, Video und Ton zu optimieren. Weit profaner waren aber beispielsweise die Probleme durch das viele Wasser auf der Bühne – den Künstlern wird nicht nur insgesamt schon eine solide körperliche und stimmliche Konstitution abverlangt, sie werden auch noch regelmäßig durch kräftige Regen- fälle oder Küstenszenen nass bis auf die Haut. So gibt es eine Situation, in der sie fast gleichzeitig im Wasser untertauchen, aber auch noch Dialoge übertragen wer- den müssen. Erste Versuche, die Sennheiser-Sendetechnik für diese Momente vorübergehend wasserfest zu verpacken, erwiesen sich als nicht praktikabel. Die Lösung sieht nun so aus, dass die ganze Darstellergruppe im Off von bereitstehen- den Helfern blitzschnell von der Sendertechnik befreit wird. Die Dialogübertra- gung erfolgt dann nur noch über ein – durch ein kleines „Regenschirmen“ geschütztes – Mikrofon am ins Wasser führenden Steg und weitere Mics an den am Strand stehenden Panzersperren.

Soldaat van Oranje
Audioteam: Jos Diergaarde, Jeroen ten Brinke und Chiel Blaauw (v. l. n. r.) (Bild: Detlef Hoepfner)

Transparenter Sound für große Bilder

Wenn man als Besucher im Vorfeld bereits den gesamten bühnentechnischen Auf- wand wahrgenommen hat, ist man vor allen Dingen von zwei Aspekten besonders überrascht: Erstens sind Befürchtungen, die ganzen Bewegungen und Bühneneffekte könnten vom eigentlichen Thema ablenken, unberechtigt. Zweitens ist erstaunlich, welch hohe Audioqualität zu erleben ist. Das wird besonders bei den Vocals deutlich, die absolut natürlich und transparent erscheinen und an Studioqualität erinnern – wir vermuteten direkt, dass dies ein Resultat der verwendeten Mikrofone (Sennheiser Earset 1, MKE1 und 2), modernem Audio-Processing und am anderen Ende der Wiedergabekette sehr cleanen Lautsprechersystemen ist. Jeroen bestätigt: „Das liegt an den Mikros und deren Platzierung, der Sendestrecke und ihrer Noise Reduction, den A/D- und D/A-Wandlern, den Alcons-Verstärkern und – Ribbons. Also eine ganz bewusste Auswahl der Komponenten – und der Art, wie sie dann eingesetzt werden.“

Wie ungemein stabil und homogen der Stimmen-Mix – auch bei großen Chorpassagen – in statischen Situationen ist, wird einem spätestens bei den Drehbewegungen klar: Das extrem analytische Gesamtsystem offenbart sofort die zu erwartenden kleinen akustischen Nebeneffekte, die eben entstehen, wenn sich die Entfernung zwischen Hörer und Quelle verändert oder wenn Signale im 360-Grad-Panorama dynamisch umpositioniert werden. Das aber sind Details, die zwar nach unserer Erfahrung von Fachleuten sofort interessiert wahrgenommen werden – vom Publikum aber völlig unbeachtet bleiben.

Im Publikum zu sitzen, während um einen herum Hakenkreuzfahnen wehen, Wehr- machtssoldaten sich zum Erschießungskommando formieren, Niederländer ihre Landsleute verraten und nach dem Krieg vor zerstörten Beziehungen stehen – das ist nicht gerade typischer Musical-Stoff. Und doch gelingt der Produktion, die sich auch einen Export des Programms nach England oder in die USA erhofft, ein ganz eigener Weg. Es wird eine Menge Aktionen, viel zu sehen und zu hören geboten – ohne sich aber mit oberflächlichem Show-Trallala zu begnügen.

Gleichzeitig hat die Produktion eine enorme Intensität, der man sich nicht entziehen kann – da schaut nach kurzer Zeit niemand mehr nach Lautsprechern, Lampen oder Bühnentechnik. Das liegt nicht nur an dem bedrückenden – auch für Niederländer im Rückblick nicht einfachen – Thema: Die gesamte Umsetzung ist in all ihrer Aufwändigkeit radikal daran orientiert, den Besucher zu erreichen und zu fesseln. Wenn man vor der riesigen Kulisse der im Hintergrund brennenden Hafenstadt quasi gemeinsam mit den Darstellern vom Heck der Saint Cerque, einem erst in Rotterdam beschlagnahmten und dann doch an eine Reederei in der Schweiz verkauften Handelsschiff, übers Meer schaut, könnte man schwören, dass man selbst die schwere Dünung in den Knochen und den beißenden Rauch in der Nase spürt.

Auch wenn man zu der einen oder anderen landestypischen Szene schweren Zugang hat – mit Königshäusern z. B. kommt man ja als Deutscher nicht mehr so häufig in Berührung – kann man dem Musical-Betreiber eigentlich nur empfehlen, nicht nur das direkte Umland anzusprechen (für die grenzüberschreitenden Besucher dann aber auf jeden Fall auch ein deutschsprachiges Begleitmaterial anzubieten).

Was sind für Jeroen ten Brinke, der einen Großteil seines Lebens mit Musicals verbracht hat, die Highlights dieser Produktion? „Das sind die Szenen und Songs, bei denen der Chor singt und wir gleichzeitig in die Drehung gehen! Der Chor-Sound bleibt genau am Ort der Sänger, während aus einer anderen Richtung eine neue Szene startet. Wir haben einige dieser ‚Split Screen‘-Szenen, bei denen der Sound aus unterschiedlichen Richtungen kommt oder der Cast weiter spricht und singt, während wir drehen. Darüber hinaus haben wir natürlich den lebensechten Klang eines ‚Meeres‘ mit Regen und Wellenmaschinen, während die Geschichte fortschreitet. Das habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!“

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