Scheinselbstständigkeit: Warum der neue Gesetzesentwurf ein Fehlgriff ist
von ISDV,
Die Diskussionen rund um die ersten beiden Statements der ISDV zeigen, dass großer Gesprächsbedarf – und noch viele Unklarheiten bestehen. Bei manchen ist das Thema Scheinselbstständigkeit schon angekommen, bei anderen spielt es noch gar keine Rolle. Die ISDV greift das Thema deshalb nochmals auf und kommentiert die Gesetzesvorschläge durch die damalige Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles.
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Es gibt in Deutschland keine gesetzliche Begriffsbestimmung selbstständiger Arbeit. Es wird im Sozialgesetzbuch (SGB) lediglich definiert, was abhängige Beschäftigung ist. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus: Alles, was keine abhängige Beschäftigung darstellt, ist selbstständige Arbeit. Betrachtet man die historische Entwicklung des SGB, mag das sinnvoll erscheinen. Das Gesetzbuch beschäftigt sich vor allem mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen des vergangenen Jahrhunderts. Teile des SGB gehen bis auf das Jahr 1883 zurück, um damit auf die industrielle Revolution in Deutschland und die daraus entstandenen sozialen Probleme der Arbeiterklasse zu reagieren. Spätestens mit der digitalen Revolution und der enormen Geschwindigkeit, mit der sich die Anforderungen der Wirtschaft an den Arbeitsmarkt ändern, kann die Sozialgesetzgebung nicht mehr mithalten. Es hat sich neben dem klassischen Arbeitsmarkt ein paralleler Arbeitsmarkt entwickelt, der den Unternehmern hoch spezialisierte selbstständige Experten auf Zeit zur Verfügung stellt, um besondere Aufgaben im Unternehmen projektbezogen zu erledigen.
Nach Ende der Projekte ziehen diese Spezialisten weiter zur nächsten Aufgabe, um ihr Wissen und ihre Expertise anderen Kunden zur Verfügung zu stellen. Die mangelnde Definition selbstständiger Arbeit erweist sich spätestens hier als Nachteil, wenn man die Problematik Scheinselbstständigkeit betrachten möchte. Für diesen eben angesprochenen parallelen Arbeitsmarkt existiert in Deutschland keine Schublade. Es gibt die abhängige Beschäftigung nach SGB auf der einen Seite und das klassische Modell der selbstständigen Unternehmer und Betriebe, wie Handwerk, Industrie und Dienstleistung auf der anderen Seite, die ihrerseits wieder Arbeitgeber für abhängig Beschäftigte sind. Der selbstständige Einzelunternehmer ohne Angestellte, neudeutsch gerne Solo-Selbstständiger genannt, kann oftmals weder der einen noch der anderen Seite zugeordnet werden. Die DRV ist für die Absicherung abhängig Beschäftigter da, für Selbstständige besteht keine Versicherungspflicht. Folglich argumentiert die Rentenversicherung immer pro-angestellt und aus Sicht der abhängig Beschäftigten. Dass diese Argumentation bequem für die DRV ist, ist nachvollziehbar.
Auf der Seite der Deutschen Rentenversicherung kann man zur Thematik Scheinselbstständigkeit verschiedene Dokumente einsehen. Unter anderem auch die Anlage 1 „Anlagen Abgrenzung Scheinselbstständigkeit“ (Stand: 2010) mit einer Liste von Berufen aus der Theater-, Film- und Fernsehwelt, deren „sozialversicherungsrechtliche Statusbestimmung insbesondere anhand der von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze für eine große Anzahl von Tätigkeiten einheitlich vorgenommen“ wurde. Hier sind pauschal Berufe definiert worden, die nicht unter den Verdacht der Scheinselbstständigkeit fallen. Diese Berufe kommen derer der Veranstaltungsbranche oft sehr nahe. Da finden sich im Abschnitt 3.3 z. B: Arrangeure, Bühnenbildner, Dolmetscher, Editoren/ Cutter, Gesprächsteilnehmer, Journalisten, Lektoren, Tonmeister mit eigenem Equipment, Videografiker/-designer. Insgesamt sind 50 Berufe gelistet, überwiegend mit einem künstlerischen Anteil.
Es liegt nahe, zu fragen, warum aus der Live-Entertainmentbranche keine Berufe ausgenommen wurden. Bislang war, so könnte man argumentieren, keine Interessenvertretung vorhanden, die hier für die Branche einstand. Diese Aufgabe erfüllt die ISDV seit elf Monaten stetig mehr. Zum anderen ist zu fragen, ob diese Berufe denn wirklich rechtssicher aus dem Rennen genommen wurden. So verspricht es ja zumindest der Vorworttext der Anlage. Hier ist leider wieder einmal die Absurdität des Systems der DRV überdeutlich zu lesen. Im Abschnitt 3.7 heißt es dann nämlich: „Gehört ein freier Mitarbeiter zu einer der in Abschnitt 3.3 genannten Berufsgruppen, so kann er aufgrund besonderer Verhältnisse des Einzelfalls gleichwohl abhängig beschäftigt sein“. Selbst die in 3.3 als ausgenommen definierten Berufe sind es dann doch nicht.
Realitätsüberprüfung
Wozu also diese Regularien, wenn dann doch nichts geregelt ist? Es ist enttäuschend, dass mit dem Referentenentwurf² aus dem Arbeitsministerium offen- sichtlich wieder eine Chance verpasst wird, Gesetzgebung an Arbeitsrealität anzupassen. Statt Selbstständigen immer wieder vorzuhalten, was sie nicht sollen und dürfen, hätte Frau Nahles die Gelegenheit nutzen können, Selbstständigen Handlungsanweisungen anzubieten, wie sie sich verhalten müssen, um vor dem Vorwurf der Scheinselbstständigkeit sicher zu sein. Nehmen wir an, der Gesetzentwurf des Arbeits- und Sozialministeriums würde genau andersherum formuliert, aus der Sicht des Selbstständigen, aber mit den gleichen Inhalten wie im Moment. Erarbeitet man dieses Punkt für Punkt, ergibt sich folgendes Bild:
Der Scheinselbstständige ist nicht frei darin, seine Arbeitszeit oder die geschuldete Leistung zu gestalten oder seinen Arbeitsort zu bestimmen.
oder anders formuliert:
Der Selbstständige ist frei darin, seine Arbeitszeit oder die geschuldete Leistung zu gestalten oder seinen Arbeitsort zu bestimmen.
Realitätsüberprüfung: Es erfolgt eine Ausschreibung für eine bestimmte Bauleistung, sagen wir: Einbau eines neuen Kellerfensters durch einen Schreiner. Es gibt eine klare Definition der geschuldeten Leistung. Diese Vorgabe der geschuldeten Leistung kommt hier vom Auftraggeber. Natürlich kann der Schreiner nur das Anbringen des Fenstergriffes anbieten, wird damit aber wohl kaum beauftragt werden. Auch Ort und Zeit (zumindest Zeitraum) stehen fest. Ist diese Arbeit folglich nicht durch Selbstständige zu leisten? Diese Frage muss man hier der DRV stellen. Der in die Handwerksrolle eingetragene Handwerker ist nach SGB VI versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung, zumindest für 18 Jahre. Danach kann er sich von der Versicherungspflicht befreien lassen. Somit wird er von der DRV nicht auf Scheinselbstständigkeit überprüft, obwohl er in exakt dem gleichen Auftragsverhältnis wie z. B. ein selbstständiger IT-Experte steht. Hier werden Kriterien erschaffen, um Selbstständige, die unglücklicherweise nicht in eine Handwerksrolle eingetragen sind, in abhängige Beschäftigungsverhältnisse zu zwingen. Um Rentenversicherungsbeiträge zu generieren, könnte eine Pflichtversicherung Selbstständiger ohne Angestellte, ähnlich den arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen nach § 2 Nr. 9 SGB VI diskutiert werden.
Scheinselbstständig ist, wer die geschuldete Leistung überwiegend in Räumen eines anderen erbringt.
oder
Selbstständig ist, wer die geschuldete Leistung nicht überwiegend in Räumen eines anderen erbringt.
Dienstleistungen sind Leistungen am Kunden und dadurch bedingt sehr oft auch an dessen Räumlichkeiten gebunden. Nicht nur in der Veranstaltungsbranche ist dem selbstständigen Auftragnehmer ein Ort vorgegeben. Mit welcher Begründung soll die Räumlichkeit definieren, was selbstständige oder nichtselbstständige Arbeit ist? Auch hier wird wieder mit zweierlei Maß gemessen. Ein Beispiel: Der Schornsteinfeger wird seine Tätigkeit immer in den Räumlichkeiten anderer erbringen. Da er aber bereits der Rentenversicherungspflicht unterliegt, ist in seinem Fall das Kriterium hinfällig.
Scheinselbstständig ist, wer zur Erbringung der geschuldeten Leistung regelmäßig Mittel eines anderen nutzt.
oder
Selbstständig ist, wer zur Erbringung der geschuldeten Leistung nicht regelmäßig Mittel eines anderen nutzt.
Problem: Nachhaltigkeit, Green Production, Green Event, Energieeffizienz, Sustainability – alles Begriffe, die von Industrie, Unternehmen und auch Ministerien gern bemüht werden, um ressourcenschonende Arbeitsverfahren zu promoten. Anstatt hier von unserer Branche zu lernen, in der die gemeinsame Benutzung von Arbeitsmitteln normal ist, wird eine sinnvolle Vorgehensweise zum Knock-out-Kriterium für selbstständige Arbeit erklärt. Auch die reine Wissensarbeit eines IT Experten macht den Einsatz eigener Mittel unnötig. Zum Beispiel kann das regelmäßige Einspielen von Updates oder Programmierarbeit an Datenbanken direkt am Computer des Auftraggebers vorgenommen werden, ohne dass auch nur ein einziger Angestellter des Auftraggebers in der Lage wäre, dieselbe Arbeit wie der IT-Experte zu erledigen.
Scheinselbstständig ist, wer die geschuldete Leistung in Zusammenarbeit mit Personen erbringt, die von einem anderen eingesetzt oder beauftragt sind.
wird zu:
Selbstständig ist, wer die geschuldete Leistung nicht in Zusammenarbeit mit Personen erbringt, die von einem anderen eingesetzt oder beauftragt sind.
Die heutigen Anforderungen an Qualitätsmanagement, Complience und Effektivität setzen eine Teamarbeit voraus. Man kann nicht durch Gesetze Firmen zwingen, ineffektiv zu wirtschaften oder illegal zu arbeiten. Weiter wird es sehr interessant, wie sich der Begriff „Zusammenarbeit“ definiert. Werfen wir dazu einen Blick in das Arbeitsschutzgesetz § 8 „Zusammenarbeit mehrerer Arbeitgeber“: „(1) Werden Beschäftigte mehrerer Arbeitgeber an einem Arbeitsplatz tätig, sind die Arbeitgeber verpflichtet, bei der Durchführung der Sicherheits- und Gesundheitsschutzbestimmungen zusammenzuarbeiten.“ Der moderne Arbeitsschutz verpflichtet also Unternehmer zur Zusammenarbeit.
(Scheinselbstständig ist, wer) ausschließlich oder überwiegend für einen anderen tätig ist.
umformuliert:
Selbstständig ist, wer nicht ausschließlich oder überwiegend für einen anderen tätig ist.
Dieser Punkt im Gesetzentwurf ist schlicht überflüssig. Für diese Personen gibt es bereits den Begriff des arbeitnehmer- ähnlichen Selbstständigen nach § 2 Nr. 9 SGB VI. Der ist schon per Definition sozialversicherungspflichtig und gilt als selbstständig. Wie kann dasselbe Kriterium einerseits zur Definition eines arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen und andererseits zur Definition einer Scheinselbstständigkeit herangezogen werden?
Scheinselbstständig ist, wer keine eigene betriebliche Organisation unterhält, um die geschuldete Leistung zu erbringen.
wird zu:
Selbstständig ist, wer eine eigene betriebliche Organisation unterhält, um die geschuldete Leistung zu erbringen.
Wie soll die betriebliche Organisation bei Wissensarbeitern aussehen? Ein Terminkalender nach DIN? Oder muss der Einzelunternehmer ein paar Betriebsanweisungen der Berufs genossenschaften für sich selbst aufhängen? Bei selbstständigen Einzelunternehmern ohne Angestellte ist ein Organigramm der Aufbauorganisation des Betriebes wohl eher überflüssig. Wer sich nicht selbst organisieren kann, kann längerfristig nicht als Selbstständiger überleben. Bei Wissensarbeitern kann man kaum eine Werkstattausstattung erwarten.
Scheinselbstständig ist, wer Leistungen erbringt, die nicht auf die Herstellung oder Erreichung eines bestimmten Arbeitsergebnisses oder eines bestimmten Arbeitserfolges gerichtet sind.
wird zu
Selbstständig ist, wer Leistungen erbringt, die auf die Herstellung oder Erreichung eines bestimmten Arbeitsergebnisses oder eines bestimmten Arbeitserfolges gerichtet sind.
Wer beschäftigt sich mehrere Stunden am Tag damit, völlig sinnlosen Tätigkeiten nachzugehen? Jede Arbeit ist dazu da, bestimmte Arbeitsergebnisse und Arbeitserfolge zu erreichen. Wenn das Ministerium mit diesem Kriterium eine verbindliche Zielvereinbarung meint, sollte dies auch genau so formuliert werden.
Scheinselbstständig ist, wer für das Ergebnis seiner Tätigkeit keine Gewährleistet.
oder
Selbstständig ist, wer für das Ergebnis seiner Tätigkeit Gewährleistet.
Gewährleistung bedeutet, für Mängel, die bei der Ausführung der Tätigkeit entstehen, haftbar zu sein. Bei Werkverträgen hat der Besteller nach § 634 BGB das Recht auf Mängelbeseitigung. Wer als Subunternehmer beauftragt wird, muss selbstverständlich Gewähr für seine Tätigkeit leisten. Der Auftraggeber kann unter anderem vom Vertrag zurücktreten, die Vergütung mindern und Schadensersatz verlangen.
Fazit: Arbeits- und Finanzministerium, IHK und Deutsche Rentenversicherung müssen endlich gemeinsame Kriterien finden
Wie man sieht, ist der Gesetzesentwurf – zumindest aus der Sicht unserer Branche – ein ziemlicher Fehlgriff, erscheinen doch einige Passagen fast schon grotesk an der Realität vorbei gedacht. Verständlicherweise hat es Kritik von allen Seiten an diesem Referentenentwurf gehagelt. Dem Arbeits- und Sozialministerium fehlt es dringend an Kommunikation und Beratung mit den betroffenen Verbänden. Auch erscheint es überfällig, Experten des Wirtschaftsministeriums zu beteiligen, um realitätsnahe Gesetze auf den Weg zu bringen und den Bedürfnissen der Wirtschaft entgegen zu kommen. Dabei müssen sich auch die Gewerkschaften neu positionieren. Das Beharren auf Standpunkten wird niemandem gerecht. Arbeits- und Finanzministerium, die IHK und die Deutsche Rentenversicherung müssen endlich gemeinsame Kriterien finden, um der Undurchsichtigkeit und daraus folgenden Verunsicherung der selbstständigen Auftragnehmer entgegen zu wirken. Eine Lösung kann nur durch den Dialog aller Betroffenen gefunden werden.
Die Argumentation Scheinselbständig zu sein, wenn man in den Arbeitsprozess seines Auftraggebers integriert ist, ist schlichtweg falsch. Ein selbständiger Tontechniker ist zwangsläufig in den Arbeitsprozess integriert, weil er seine Lautsprecher nur aufhängen kann wenn das Rigg noch unten ist und auch in sachen Soundcheck und Proben muß er sich nach der Veranstaltungsleitung richten. Als Selbständiger hat er aber die Möglichkeit vor der Auftragserteilung bzw. Auftragsannahme diese Termine zu klären, im Zweifelsfall muß der Auftrag abgelehnt werden. Wenn der Auftraggeber oder Veranstalter selbst seine Veranstaltung zu kurzfristig geplant hat und deswegen vielleicht keinen anderen mehr findet, dann muß es sein Problem bleiben. Er darf unter keinen Umständen sagen,”lass deinen anderen Kunden sausen, ich hab Dir schon so viele Aufträge gegeben” dass würde, wenn er sich darauf einlassen würde, auf Scheinselbständigkeit zutreffen.
Die Argumentation Scheinselbständig zu sein, wenn man in den Arbeitsprozess seines Auftraggebers integriert ist, ist schlichtweg falsch. Ein selbständiger Tontechniker ist zwangsläufig in den Arbeitsprozess integriert, weil er seine Lautsprecher nur aufhängen kann wenn das Rigg noch unten ist und auch in sachen Soundcheck und Proben muß er sich nach der Veranstaltungsleitung richten. Als Selbständiger hat er aber die Möglichkeit vor der Auftragserteilung bzw. Auftragsannahme diese Termine zu klären, im Zweifelsfall muß der Auftrag abgelehnt werden. Wenn der Auftraggeber oder Veranstalter selbst seine Veranstaltung zu kurzfristig geplant hat und deswegen vielleicht keinen anderen mehr findet, dann muß es sein Problem bleiben. Er darf unter keinen Umständen sagen,”lass deinen anderen Kunden sausen, ich hab Dir schon so viele Aufträge gegeben” dass würde, wenn er sich darauf einlassen würde, auf Scheinselbständigkeit zutreffen.