Bandportrait

Doku-Tipp: The Grateful Dead „Long Strange Trip“

Woodstock und gelebte Hippie-Exzesse – die 1965 in Kalifornien gegründeten Grateful Dead um Sänger und Gitarrist Jerry Garcia dürften als die Personifikation dessen gelten. Entsprechend abenteuerlich waren ihre Gigs und Tourneen – das Motto der Band lautete: Musikalisch immer im Moment leben. Dem musste sich alles unterordnen.

Amazon Serien-Titelbild(Bild: Amazon)

„Ich kenne den Trick, wie du die Leute dazu bekommst, zu tanzen“, erklärt Frontmann Jerry Garcia in der Doku. „Und den Trick, wie du Standing Ovations bekommst. Das lernst du als Band. Aber darauf darfst du dich nicht verlassen, denn das sind Lügen! Sobald du sie kennst, werden sie ein Mittel zum Zweck – das lässt sie erstarren. Ich sehe keinen Sinn darin, das gleiche immer wieder zu tun, egal, wie großartig es ist. Leben bedeutet für mich, sich stetig zu verändern.“

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Bassist Phil Lesh sah das ähnlich: „Das ist kollektive Improvisation. Und wenn wir so richtig dabei sind, können wir das Ventil aufdrehen.“ Zur Musik zählen ausufernde Jam-Sessions.

Nach der Gründung 1965 wohnte die Gruppe zunächst gemeinsam in einem Haus, probte jeden Tag und spielte schließlich Konzerte. In frühen Filmausschnitten sind auf einem Platz Hippie-Massen zu sehen, die Band spielt vom LKW, auf dessen Seiten der Sound über große Hörner irgendwie projiziert wird – es steht sinnbildlich für die teils improvisierten Gigs mit überschaubaren Mitteln.

Musikalisch war die Mischung denkbar ungewöhnlich – mit zwei Drummern und Einflüssen aus Bluesgrass-Banjo, Blues-Mundharmonika, R&B, Folk, Marching Band und Avantgarde. Jerry Garcia lieferte zudem anspruchsvolle Texte. Löste man die Egos alle in LSD auf, entstünde die Grateful-Dead-Musik – erklärt ihr Biograf und Publizist Dennis McNally.

Erfahrungen mit Acid und LSD prägten die Band persönlich wie musikalisch, dazu kam die Interaktion mit den Fans im gefühlten Trance-Zustand. „Dead Heads“ – die Bezeichnung der Fans durch die Band – gab es schnell viele: Die Rückseite eines Plattencovers rief beispielsweise zur Teilnahme an einer Mailing- Liste auf, eine erste Form der Fanbase-Organisation.

Sam Cutler, Tour-Manager von 1970 bis 1974, erklärt seinen Job: der sei schwierig zu definieren, denn er bestehe darin, alles am Laufen zu halten. „Ich bin mein ganzes Leben gereist. Das ist der bekannte Traum: Kauf dir einen Van, baue ein Bett ein und fahre durch Amerika!“ 1969 arbeitete er für die Rolling Stones, nach dem dramatisch schiefgelaufenen Altamont-Festival ging er zu den Grateful Dead.

„Jerry war fasziniert davon, wie die Rolling Stones ihre Tour organisierten. Er wollte wissen, wie sich eine Band so aufstellte, dass sie überleben und das tun konnte, was sie liebte: Musik machen. Die Grateful Dead hatten überhaupt keine Ahnung, was es bedeutete, eine große, bekannte Band zu sein – völlig naiv, wie Kinder in einer Männerwelt.“

Als deren Tour-Manager müsse man darauf vorbereitet sein, sich wirklich um alle Bereiche zu kümmern: „Ich habe eine einfache Regel – ich reise nie mit Drogen.“ Dazu bestehe keine Notwendigkeit, denn: „Die Drogen, die ich brauche, bekomme ich überall, wo ich gerade bin. Ich sehe mir die Leute an und weiß instinktiv, wen ich ansprechen muss.“

Mit der Plattenfirma – Warner Brothers – gingen sie unkonventionell um: Budgets und Zeit wurden überzogen, die Firma schickte Briefe ins Studio. „Wir benoteten die Briefe und schickten sie zurück“, erklärt Percussionist Mickey Hart. Für die Aufnahmen schnitt die Band beispielsweise Geräusche im Zoo mit – bei dem Versuch, mit Tieren zu kommunizieren.

Der ehemalige Warner-Brothers-Chef Joe Smith erinnert sich: „Sie behaupteten immer, ich würde ihre Musik nicht verstehen, außer ich nähme Drogen. Einmal nahm ich Lachgas mit ihnen. Die Kosten gingen durch die Decke – das war das teuerste Projekt, das wir je bei Warner Brothers Records hatten. Sie wollten trotzdem noch mehr Geld für das Studio.“ Am Ende stand die 1969er Platte mit dem unaussprechlichen Titel Aoxomoxoa: „Nicht gerade meine Vorstellung eines Hit-Albums.“

Der Nachfolger Workingman’s Dead fiel minimalistischer aus – und wurde ein Erfolg. Die anschließende Tournee zeigt langsam die Professionalisierung der Live-Szene auf –interessant zum Beispiel zwei Gesangsmikrofone, die an einzelne Stative getaped waren: Manchmal war die doppelte Mikrofonierung schlicht der Aufgabe geschuldet, Recording- und PA ohne Splitter zu speisen – die entweder nicht vertrauenswürdig oder zu teuer waren.

Grateful Dead dagegen versuchten, über eine Phasendrehung der sehr nahen Mikrofone die Umgebungsgeräusche deutlich zu reduzieren, bei minimalem Verlust des Direktsignals. Der Hintergrund wird von der Doku nicht erfasst, allerdings ausführlich von Hugh Robjohns, Mike Senior und Martin Walker in einem Artikel im Sound-On-Sound-Magazin 2010 beschrieben.

Die Serie, die 2017 als Amazon-Produktion erschien, umfasst sechs Folgen, die zwischen 39 und 58 Minuten dauern und den Zuschauer auf einen seltsamen Trip mit nehmen – nämlich die Anfangszeit einer gefühlten Hippie-Kommune auf Rädern, durch alle möglichen Unwägbarkeiten des Live-Geschehens vor und hinter den Kulissen. Das dürfte selbst für jene interessant sein, die der Musik nicht wirklich viel abgewinnen können. Die Serie ist mit Prime-Abo kostenlos verfügbar (Englisch mit Untertiteln). Mittlerweile ist die Doku auch auf DVD und Blu-Ray erhältlich.

Und was bleibt? „Die Plattenfirma musste nehmen, was wir ihnen gaben“, fasst Phil Lesh die Haltung der Band zusammen. „Wenn sie uns fallenließen, war uns das egal. Grateful Dead wollten immer live spielen, das war das Wesentliche für uns.“ Der Augenblick zähle. „Eine Platte zu machen, war lediglich praktische Werbung für die Band.“

Insgesamt habe der 1995 verstorbene Jerry Garcia jeden Tag, an dem er keinem „normalen“ Job nachgehen müsse, als Wunder empfunden, meint Dennis McNally. Wenngleich Garcia mit seiner Rolle im Musikgeschäft und dem Ruhm haderte – so positiv kann man, wenn es gut läuft, das Musikbusiness auch sehen.

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