War früher wirklich alles besser?

Die psychologische Klassik-Falle

Classics

Musik und Medien bestimmen das Leben der Menschen wie nie zuvor. Bei den beliebtesten Freizeitaktivitäten liegt das Fernsehen (95 %) an der Spitze, dicht gefolgt vom Radiohören (90 %) und vom Musikhören (85 %), so eine aktuelle Studie der Stiftung für Zukunftsfragen. Daher ist es kein Wunder, dass Töne und Klänge nicht nur unsere aktuellen Stimmungen beeinflussen, sondern auch musikalische Erinnerungen prägen

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In einer Gesellschaft, die immer älter wird, gewinnen emotionale Erinnerungen an Gewicht, weil sie in der Summe ein kollektives Gedächtnis bilden, das ganze Geburtsjahrgänge bedient. So werden diejenigen, die ihre Jugend in den 70er- und 80er-Jahren verbrachten, heute etwa als die „Generation Golf“ (Florian Illies) bezeichnet. Mit ihr kam eine Welle ins Rollen, die alles, was irgendwie „retro“ wirkt, mit einer Aura der Verzückung umgibt. Populäre Hits und Songs der jüngeren Vergangenheit gehen dadurch immer schneller als „moderne Klassiker“ durch, die wiederum als stilprägend für nachfolgende Musikgenerationen angesehen werden. Ältere Songs der 50er- und 60er-Jahre scheinen dagegen zunehmend in Vergessenheit zu geraten, zumindest in der Populärkultur. Man mag über den Wert mancher Werke aus der immer elektronischer werdenden Zeit streiten, doch entscheidend ist, was der Hörer davon hält. So erfreuen sich auch Partys, die der Musik der 80er- und 90er-Jahre gewidmet sind, einiger Beliebtheit. Die Zentrierung auf den Rezipienten ist es, die einer Musik, die sich als kommerzielles Produkt und Dienstleistung versteht, letztlich auch Fans und Verbundenheit verschafft.

Spotify Pop Classics Deutschland (von 1950 bis 2000)
Rang Künstler Titel Jahre
1 Oasis Wonderwall 90er
2 Coolio Gangsta´s Paradise 90er
3 Nirvana Smells Like Teen Spirit 90er
4 Toto Africa 80er
5 Lou Bega Mambo No. 5 90er
6 Michael Jackson Billie Jean 80er
7 Backstreet Boys I Want It That Way 90er
8 Survivor Eye of the Tiger 80er
9 Journey Don´t Stop Believin´ 80er
10 a-ha Take On Me 80er

Konstruierte Wirklichkeiten

Oft zeigt der Blick in die Vergangenheit, wo die musikalische Verbundenheit begann: In der Pubertät bis Mitte 20 sind wir noch offen für Neues, ab 31 machen die meisten Menschen dicht, so eine aktuelle Studie des Streaminganbieters Deezer. Allerdings ist das Erinnerungsvermögen des Menschen ein flexibles Konstrukt. Denn wir neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären, po- sitiv zumeist, und Fehlendes nach Belieben zu ergänzen. Je länger ein Erlebnis zurückliegt, desto stärker zeigt sich, wie trügerisch Gedächtnisinhalte gestaltet sein können. Psychologen sprechen gar vom „False Memory Syndrome“ (Julia Shaw), wenn sich Erinnerungen ins Bewusstsein einschleichen, die jeder Grundlage entbehren – ein Phänomen, das so manche Zeugenaussage vor Gericht bei genauerer Betrachtung in sich zusammenfallen lässt. Ebenso dürfte aber auch manch ein Musikfan von früher heute peinlich berührt sein, wenn er die Originalaufzeichnung einer alten Hitparadensendung im Fern- sehen sieht, die ihn seinerzeit begeisterte. Das Bild der Erinnerung ist in der Regel geschönt, die Realität mitunter ein echter Schock. Manches war früher zwar anders, aber die Klangqualität der Musik nicht unbedingt besser. Tontechnik sowie künstlerische Ansprüche und Geschmäcker haben sich schließlich weiterentwickelt.

Soundcheck statt Realityshock

Gerade bei Musikstücken, die man als klassisch im Sinne von „alt“ versteht, dürfte diese Einsicht aber auch von praktischem Nutzen für das Musikmarketing sein. Wer als Fan vor Jahren oder gar Jahrzehnten Rock- oder Pop-Konzerte seiner Stars besucht hat, der wird sich eine zunehmend positive Erinnerung daran bewahren wollen. Und diese Neigung lässt sich unterstützen.

Der englische Sender ITV2 brachte 2013 ein Format ins Fern- sehen, das sich „The Big Reunion“ nannte und zum überraschenden Quotenhit wurde. Darin traten Musikgruppen der 90er-Jahre auf, die deutlich gealtert und nach Jahren der Bühnenabstinenz z. T. wieder üben mussten Töne zu treffen und choreografierte Schritte zu tanzen. Dem Erfolg des Formats tat dies allerdings keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Den Zuschauern gefiel das Format, weil es gelang, die psychologisch wesentlichen Erinnerungselemente zu aktivieren: hier vor allem die bekannten Gesichter und das authentische Bühnen-Feeling von früher.

Billboard All Time Pop Classics (1958 bis 2018)
Rang Künstler Titel Jahr
1 Chubby Checker The Twist 1960
2 Santana Smooth 1999
3 Bobby Darin Mack the Knife 1959
4 Ronson/ Mars Uptown Funk! 2015
5 Leann Rimes How Do I Live 1997
6 LMFAO Party Rock Anthem 2011
7 The Black Eyed Peas I Gotta Feeling 2009
8 Los Del Rio Macarena 1996
9 Ed Sheeran Shape of You 2017
10 Olivia Newton-John Physical 1981

Interessant dabei ist, dass es für die Akzeptanz der Revivals gar nicht so sehr auf die Detailtreue ankommt. Selbst der Austausch oder Wegfall von einzelnen Bandmitgliedern wird vom Publikum akzeptiert, sofern nur die Kernbelegschaft halbwegs noch sichtbar bleibt und der Glaube an das Dargebotene nicht erschüttert wird. Daher finden auch neue Arrangements von alten Songs durchaus Gefallen, weil sie hörergerechte Anpassungen und Modernisierungen zu bieten vermögen. Moderne Klassiker können deshalb mit der Zeit gehen, ohne an Akzeptanz zu verlieren. Vielmehr werden die alten Songstrukturen von den älteren Hörern, die noch die Originale kannten, leicht wiedererkannt, was psychologisch zu Freude führt. Und viele jüngere Musikkonsumenten finden sich in den veränderten Abmischungen wieder, wenn bzw. weil sie ihrem aktuellen Hörgefühl entsprechen. Moderne Klassiker bewegen sich musikalisch daher auf einem schmalen Grat: Einerseits bedarf es prägnanter Schlüsselelemente, die nicht angetastet werden sollten, um die Wiedererkennung zu garantieren. Und andererseits bedarf aber auch der musikalische Sound regelmäßiger Aktualisierungen, um dem gesellschaftlichen Zeitgeist und den vorherrschenden Hörgewohnheiten zu entsprechen.

Generation Loudness

Gerade bei den Hörgewohnheiten zeigt sich der Einfluss, den die Medienlandschaft auf den Menschen nimmt. Die zunehmende Reizstärke und -dichte macht auch vor der Musik nicht halt. Komprimierungen, Akzentuierungen und Bässe, die in den Bauch gehen, sind heute das Mittel der Wahl, um Hörer bei Laune zu halten, zumindest in der konservierten Populärmusik. Die Dominanz eingängiger und tanzbarer Musik, die elektronisch produziert wird und für gängige Abspielgeräte optimiert ist, macht heutige Konsumenten zur „Generation Loudness“, die an genormte Schallpegel und geglättete Dynamikstrukturen gewöhnt sind. Wahrnehmungspsychologische Studien (Ruth/Bullerjahn) zeigen, dass in der Musik mittlerweile ein regelrechter Loudness War ausgebrochen ist, in dem sich tatsächlich die kräftig bearbeiteten Songs gegenüber den High-Fidelity-Varianten durchzusetzen vermögen. Sounds mit viel Druck werden vom Hörer bevorzugt und können offenbar eine emotionale Sog- bis hin zur leichten Suchtwirkung entfalten.

Musikalische Mogelpackungen?

Enthusiasten und Kenner, die noch genau hinzuhören wissen, vermögen solche Veränderungen der Musik und ihrer Rezeption durchaus kritisch zu benennen, denn die Ursprünglichkeit, Dynamik und Echtheit können bei der Bearbeitung durchaus verloren gehen. Jedoch ist die breite Masse der Musikkonsumenten längst daran gewöhnt, dass Songs – ob alt oder neu – durch professionelles Sounddesign konsequent aufgehübscht und dem Geschmack der Masse angepasst werden. Und alle anderen können sich die Erinnerung an Klänge aus vergangenen Zeiten zumindest bewahren, indem sie sich unbearbeiteter Tonaufnahmen bedienen, sofern solche verfügbar sind. Die Renaissance des Vinyls mag hier eine Antwort auf dieses Marktes sein. Gut möglich aber, dass man beim Gehörten dann auch akustische Abstriche machen muss – oder genau hierbei den Reiz der ursprünglichen Rohfassung entdeckt, eines Klassikers eben.


Autor: Thomas Jendrosch
Thomas Jendrosch ist musikinteressierter Medien-, Konsum- und Verhaltensforscher. Er lehrt Wirtschaftspsychologie an der FH Westküste in Heide. (Bild: Thomas Jendrosch)

Kommentar zu diesem Artikel

  1. Ein sehr interessanter Beitrag! Gerne mehr davon im PP.

    Mit freundlichem Groove 😉
    Stephan S.

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