von Swen Müller, Detlef Hoepfner, Artikel aus dem Archiv
War man anfangs stolz darauf, den Begriff „professionell“ im Namen zu führen und die richtige XLR-Polung auswendig zu kennen, entwickelte sich die Branche bald extrem weiter: Digitalisierung und Industrialisierung hoben die Beschallungstechnik auf ein ganz neues Level.
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Wie wird die Zukunft der Beschallungstechnik aussehen? Diese Frage stellten wir uns in einem Interview – vor 26 Jahren 1989 in einem Hamburger Altbau bei Toningenieur Rudolf „Stempel“ Steinmetz. Mit unseren damaligen vagen Vermutungen – vielleicht bringt jemand von ganz jenseits unserer Branche die nächsten entscheidenden Impulse …? – lagen wir komplett daneben, müssen wir heute feststellen.
Oder doch nicht? Rückblickend und als neuerlicher Prognoseversuch: es gab und gibt nicht die einzelne, singuläre Revolution. Prägend sind nicht einzelne elektrotechnische, elektroakustische oder softwarebasierende Ideen. Alles schon mal da gewesen. Aber erst immer wieder neu kombiniert, der Veranstaltungspraxis besser angepasst, in den Alltag der Crews integriert werden sie zum Erfolg. Dieses Know-how kommt aber nicht (allein) aus unserer Branche. Christian Heil haben wir kennengelernt, als er mit einem Klapptisch auf der Musikmesse saß. Hinter sich eine Stellwand mit Schwarz-weiß-Fotos kurioser Lautsprecherbauten auf Lkw-Pritschen irgendwo in Frankreich. Drumherum Zettel voller Formeln. Er würde noch heute dort sitzen (und – ehrlich gesagt – hatten wir damals diese Befürchtung …), wenn es ihm und den anderen zeitgleich durchstartenden Herstellern nicht gelungen wäre, eine gute Idee auch marktfähig umzusetzen. Dazu gehören ehrliche, weite Sensibilität für die Fragen im Markt, dann Kompetenz bei mechanischen Fragen, Fertigungsprozessen, Standardisierungen und Dokumentation, Softwareentwicklung, Vermarktung oder Finanzierungskonzepten. Und dann klappt’s auch mit dem Sound.
Von analog zu digital Audio
Vor 25 Jahren war die Audiowelt noch weitgehend analog: Die CD mit ihren rasenden Zuwachszahlen war zwar schon einige Jahre auf dem Markt und es existierte die zugehörige Recording- und Mastering-Technik. Allerdings blieb der CD-Player noch für einige Zeit die einzige digitale Technik, nicht nur im heimischen Wohnzimmer, sondern auch in den Racks der FOH-Plätze: deren CD-Player wurden ab 1983 mit dem von Edo Zanki geschriebenen Ulla-Meinecke-Hit „Die Tänzerin“ zum Anlagen- und Soundcheck gefüttert.
Es ist aber nicht verwunderlich, dass sich die Digitaltechnik zunächst nur bei der Konservierung von Audio-Signalen etablieren konnte: Die damals verfügbaren 16- bis 20-Bit-AD- und DA-Wandler waren zwar seinerzeit in puncto Dynamikumfang und Linearität allen analogen Aufzeichnungsverfahren schon haushoch überlegen (und ließen erstmalig verlustfreies Kopieren der Daten über beliebig viele Generationen zu), konnten aber bei der Signalverarbeitung der Analogtechnik, für die es damals schon preiswerte und gute Operationsverstärker-ICs in Hülle und Fülle gab, lange Zeit nicht das Wasser reichen. Die verfügbaren DSPs (digitale Signal-Prozessoren für die Echtzeit-Bearbeitung) waren außerdem noch reichlich teuer und in ihrer Leistungsfähigkeit arg beschränkt. Die beschränkte Wortbreite bei einfacher Abtastrate (44,1 oder 48 kHz) konnte außerdem je nach Auslegung der Software tatsächliche Einbußen bei der Klangqualität mit sich bringen oder zumindest bei digital arbeitenden Equalizern zu Abweichungen von denen in der analogen Welt bekannten Filter-Frequenzgängen führen – Faktoren, die den ersten Digitalgeräten dieser Gattung einen schlechten Ruf eintrugen. Abhilfe ließ sich zwar seinerzeit schon mit Oversampling (Vervielfachung der Abtastrate) erzielen, was aber die verfügbaren Signalverarbeitungsstufen (zum Beispiel die Anzahl parametrischer Equalizer) um den gleichen Faktor reduzierte. Die Probleme mangelnder Wortbreite der Festkomma-DSPs ließ sich mit den gerade aufkommenden Fließkomma-DSPs minimieren – das waren aber in der Anfangszeit sündhaft teure (um die 1000,− DM!), stromfressende Flundern mit komplizierter Speicher-Anbindung, was ihren Einsatz praktisch auf wissenschaftliche Anwendungen beschränkte.
Digitale Audio-Umgewöhnung
Neben anfänglich noch eingeschränkten Klangqualitäten des digitalen Processings spielte aber noch ein anderer Aspekt für die eher schleppende Digitalisierung der Audiowelt eine wichtige Rolle: die Gewöhnung, in einer analogen Welt aufgewachsen zu sein, in welcher jeder Drehknopf und jeder Schalter seine dezidierte Funktion hatte. Diese Vertrautheit, alles immer wieder an gewohnter Stelle vorzufinden, ging durch die freie Re-Definierbarkeit der Funktionen von Tipptastern und Inkrementalgebern natürlich verloren. Dem unstreitbar vorhandenen Vorteil des der Digitaltechnik vorbehaltenen Total Recalls durch blitzschnelles Laden eines Setups stand aber insbesondere in den ersten Jahren noch ein tatsächlicher Mangel an Ergonomie entgegen – fummelige Knöpfe mit träger Reaktion des Prozessors und schlecht ablesbare monochrome LC-Displays mit grober Klötzchengrafik oder gar nur alphanumerischer Anzeige, mit deren Hilfe man sich durch Sub-Menüs der Sub-Menüs von Sub-Menüs wühlen musste, machten die Bedienung nicht gerade zum Vergnügen. Sie verhinderten gar den Einsatz in Situationen, wo schnelle Reaktionen gefordert sind – also insbesondere bei Konzerten, weshalb es digitale FOH-Konsolen auch schwerer hatten als Recording-Pulte, den Markt zu erobern.
Das hat sich seitdem deutlich geändert und die winzigen Displays sind großformatigen, farbigen oder auch berührungsempfindlichen Bildschirmen gewichen, auf denen sich Informationen viel besser und übersichtlicher darstellen lassen. Die nachfolgende Generation von Tontechnikern hat daher überhaupt keine Berührungsängste mehr mit den Bedienkonzepten digitaler Gerätschaften – im Gegenteil, sie sind damit groß geworden und finden eher das Gewicht, das ausladende Format, die Flut an Drehknöpfen (die mutmaßlich irgendwann mal anfangen, zu kratzen) sowie den eingeschränkten Funktionsumfang und die reduzierten Routing-Möglichkeiten einer ausgewachsenen Analog-Konsole befremdlich.
Hinzu kommt die allmähliche Migration der Funktionalitäten des Outboard-Gears in die zentrale Signalverarbeitungs-Einheit – die heutzutage auch gar nicht mehr unbedingt von einer Konsole als User-Interface bedient werden muss, son- dern auch von einem Laptop oder gar einem per Wifi angebundenem Tablet ferngesteuert werden kann. Gewünscht hatte man sich das schon immer, früher galt es aber schon – ein üppiges Budget vorausgesetzt – als Raketentechnik, auf der Bühne per kabelgebundener Hardware-Remote simple Terz-Analyser im Rack fernbedienen zu können. Insbesondere die Dynamikbearbeitung mit Kompressoren und Gates sowie parametrische Equalizer gehörten von Anfang an zum Basis-Instrumentarium der in jeden Kanal einschleifbaren Signalverarbeitung. Speziellere Tools und Effekte von Drittanbietern lassen sich – wie bei digitalen Audio Workstations (DAW) – als Plug-in einschleifen. Letztere stellen überhaupt eine immer leistungsfähigere und günstige Alternative zum klassischen Mischpult dar – durch Einbau vielkanaliger AD/DA-Karten oder die Ergänzung mit externen AD/DA-Frontends, die es mittlerweile in Hülle und Fülle auf allen möglichen Qualitätsniveaus gibt, lässt sich jeder gängige Computer in ein fast komplettes Studio verwandeln, auf dem auch noch gleich die heutzutage ebenfalls überwiegend softwarebasierten elektronischen Klangerzeuger laufen.
Rechenleistung für perfekten Klang
Möglich gemacht hat diese Entwicklung die exponentiell wachsende Leistungsfähigkeit der Prozessoren, der Kapazität von Arbeits- und Massenspeichern und aller peripheren Komponenten und Bussysteme. Ein wichtiger Schritt zur heute so selbstverständlichen Audiosignalbearbeitung in Echtzeit war außerdem die Integration der Fließkomma- Recheneinheit in die CPUs – die ersten Generationen der damals wie heute den Markt dominierenden Intel-Prozessoren bis hinauf zum i386 beherrschten nur Arithmetik mit ganzen Zahlen in 16 und später 32 Bit Wortbreite. Fließkommabe- rechnungen mit bis zu 80 Bit Wortbreite gab es nur per krötenlahmer Software-Bibliothek oder aber mit Hilfe von teuren (bis zu 500 DM!) nachrüstbaren Koprozessoren, die in der Anfangszeit aber immer noch mehr als hundert Taktzyklen für eine einzige Fließkomma-Operation benötigten – und dies bei nur wenigen MHz Arbeitstakt. Heutige CPUs erledigen dies selbst in den preiswertesten Produktlinien in einem einzigen Takt – bei im Vergleich zu den Anfangstagen mehrere hundert Mal höheren Taktfrequenzen. Neben der ursprünglichen Fließkomma-Einheit, deren Befehlssatz zu jener der externen Koprozessoren kompatibel ist, wurden außerdem Befehlssätze zur gleichzeitigen Bearbeitung von mehreren Daten (SIMD – single instruction, multiple data) eingeführt und auch rege von den Software-Entwicklern genutzt, womit sich die Performance weiter vervielfachen ließ.
Und so lässt sich heute problemlos und völlig selbstverständlich der gesamte Produktionsprozess mit anspruchsvollem Multikanal-Fließkommaprocessing in bis zu 64 Bit Wortbreite bei 96 kHz auf dem Laptop durchführen, wofür früher noch prall gefüllte Racks und riesige Bandmaschinen erforderlich waren. Zum Austausch der Audiodaten mit der AD/DA-Peripherie sowie zum Routing zwischen der Sequencer- bzw. Recording-Software und den verschiedensten Plug-ins wurden vom Hamburger Pionier Steinberg die auch heute noch genutzten Standards VST und ASIO geschaffen, da der Hersteller des damals in der PC-Welt vorherrschenden Betriebssystems wie üblich den Trend verschlief und erst verspätet eigene Schnittstellen (Direct-X und WDM) entwickelte. Mit Hilfe dieser Schnittstellen ließen sich Sequenzer, Klangerzeuger und Effekte der verschiedensten Hersteller unter einer Haube integrieren und so der PC oder Laptop zur kompletten Produktionsstätte verwandeln.
Ein Beispiel, welches den Wandel der relativ unflexiblen und beschränkten, aus voluminöser Hardware bestehenden Analogtechnik zur aufgeräumten und immer mächtiger werdenden Digitaltechnik griffig demonstriert, sind die Konzerte von Kraftwerk, bei denen schon zu Beginn dieses Jahrtausends das komplexe Setup aus Synthesizern, Sequencern, Samplern, Vocodern, Drumcomputern usw. durch einen einzigen Laptop plus Audio-Interface je Bandmitglied ersetzt wurde, welche übersichtlich und minimalistisch auf schmalen Stehpults drapiert sind, an denen sie von den adrett gekleideten Herren bedient werden.