Das Floß der Medusa: Dramatisches Wort/Musik-Werk als immersives Klangerlebnis
von Jörg Küster, Artikel aus dem Archiv vom
Ein szenisches Oratorium im Flugzeughangar als „Meilenstein des Musiktheaters“ mit riesigem Orchester, Chören, Solisten, immersiver Überkreuzbeschallung und einem XXL-Wasserbecken im ausgedienten Flugzeughangar? Klar, da mussten wir hin …
Eine Geschichte mit wahrem Hintergrund: 1816 lief das französische Schiff „Medusa“ vor der Küste Senegals auf eine Sandbank. Nur wenige Menschen konnten sich retten, es kam zu Kannibalismus. Der französische Maler Théodore Géricault hielt die Tragödie in einem eindrucksvollen, heute im Pariser Louvre zu sehenden Gemälde fest, das bei seiner Ausstellung im Pariser Salon 1819 der Gesellschaft einen ungewohnten Spiegel vorhielt, einen politischen Skandal auslöste und Anregungen für die gespenstische Wucht der szenischen Bilder im Hangar 1 lieferte: Im Herbst 2023 wurde Hans Werner Henzes „Das Floß der Medusa“ in der Regie von Tobias Kratzer an sieben Abenden in Berlin aufgeführt. Die ausverkauften Vorstellungen waren Teil eines Projekts der Komischen Oper Berlin (www.komische-oper-berlin.de), das unter dem Motto „Raus in die Stadt, rein in die Kieze!” in den kommenden Spielzeiten jeweils zu Saisonbeginn eine große Produktion an einem ungewöhnlichen Ort der Spreemetropole vorsieht.
Die Handlung in Kürze: Das notdürftig zusammengezimmerte Floß der havarierten Fregatte „Medusa“ treibt auf hoher See einer ungewissen Zukunft entgegen. Es bietet kaum Platz, zu wenig Wasser und zu wenig Nahrung. Um sich selbst zu retten, haben Offiziere und Kommandanten, die als Vertreter einer höheren Gesellschaftsschicht in weitaus seetüchtigeren Rettungsbooten sitzen, das Tau zum fragilen Floß gekappt, welches mit Menschen aus dem einfachen Volk besetzt ist. Unter den Verratenen entbrennt ein Kampf ums nackte Überleben.
Wie das Gemälde im Pariser Louvre hat auch das musikdramatische Werk „Das Floß der Medusa“ nichts von seiner Aussagekraft verloren. Henzes Oratorium mit dem Libretto von Ernst Schnabel ist ein musikalisches Bekenntnis gegen die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Die klangstarke Komposition gilt als Meilenstein des Musiktheaters im 20. Jahrhundert und ist Che Guevara gewidmet. Bei der Uraufführung in Hamburg kam es 1968 wegen einer roten Fahne und eines Plakats mit dem Konterfei des argentinischen Revolutionärs zu handfesten Tumulten sowie einem von Gummiknüppeln begleiteten Polizeieinsatz, der von Komponist Hans Werner Henze und anwesenden Studenten mit „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“-Rufen untermalt wurde – aus heutiger Sicht eher kurios, damals ein weite Kreise ziehender Affront gegen das wohlsituierte Bürgertum.
Der Hangar 1 im stillgelegten Flughafen Tempelhof bot Regisseur Tobias Kratzer, Bühnenbildner Rainer Sellmaier und Dirigent Titus Engel auf 6.000 m2 reichlich Raum, um Henzes politisch engagiertes Monumentalwerk mit 83 Chorsänger:innen, über 40 Statist:innen, 20 Sängern eines Knabenchors, 82 Musiker:innen und drei Solist:innen umzusetzen. Von zwei gegenüberliegenden Tribünen konnten Gäste das bildgewaltige Geschehen verfolgen.
„Normalerweise wird der Hangar 1 von der Tentaja Soziale gGmbH genutzt, die hier ein vielfältiges Angebot in den Bereichen Sport, Kultur, Bildung und Beratung unterbreitet“, berichtete Simon Böttler, Tonmeister an der Komischen Oper, der bei den Aufführungen für die Tonmischung verantwortlich war. „Für „Das Floß der Medusa“ wurde die 6.000 m2 große Halle leergeräumt, und alles, was bei den Aufführungen benötigt wird, musste nach Tempelhof gebracht werden. Der Bühnenbildner hat in der leeren Halle eine neue Welt geschaffen, deren zentrales Element ein 24 × 20 Meter messendes, knietief mit Wasser gefülltes Becken ist, das an seinen Längsseiten von Tribünen flankiert wird. Diese bieten Platz für jeweils rund 700 Gäste sowie für Mitglieder des Chors.“
Mit Maßnahmen zur akustischen Optimierung in Interaktion mit dem immersiven Beschallungskonzept einschließlich der Planung und Ausschreibung wurde die Firma MMT beauftragt. Im leeren Zustand wies der Hangar eine Nachhallzeit von rund 9 s auf, welche dank geeigneter Maßnahmen auf weniger als die Hälfte reduziert werden konnte. Nicht zu vernachlässigen ist sicherlich, dass die großen Tribünen der Ausprägung stehender Wellen entgegenwirkten und sich die Anwesenheit von Publikum bei ausverkauften Vorstellungen positiv auf die Akustik auswirkt. Im Zusammenspiel betrug die Nachhallzeit während der Aufführungen schließlich ca. 3,8 s, und das akustische Ambiente war für die Ohren überraschend angenehm – der optische Eindruck der riesigen Halle entsprach nicht dem, was man als Hörer:in wahrnehmen konnte.
„Die Akustik ähnelt ein wenig einer Kirche“, kommentierte Tonmeister Simon Böttler. „Wir haben viele blanke Steinflächen und natürlich auch die großen Metalltore des Hangars – es ist insgesamt schon recht hallig, aber dank der Akustikmaßnahmen auf eine durchaus angenehme Art und Weise. Klar ist jedenfalls, dass man in dieser Umgebung ohne elektroakustische Unterstützung nicht besonders weit käme. Ein großes Thema bei „Das Floß der Medusa“ ist die Sprachverständlichkeit, da unter anderem eine Erzählerin auftritt, die längere Monologe in deutscher Sprache vorträgt – wenn die Verständlichkeit dabei nicht stimmen würde, wäre das fatal.“
Puzzleteile aus dem (elektro)akustischen Zauberkasten
Für das Audiodesign bei „Das Floß der Medusa“ war Tondesigner/Diplom-Tonmeister Holger Schwark (www.holgerschwark.de) verantwortlich, der auf viele erfolgreich realisierte Klassikprojekte jeder Art und Größe verweisen kann. Regelmäßig ist er aber auch für Rock- und Popformationen wie etwa die Pet Shop Boys tätig ist. Die Ausschreibung für die Gewerke Ton und Video konnte Neumann&Müller für sich entscheiden, Rigging und Licht kamen von der TSE AG. Den Job des Systemtechnikers teilten sich César Catalan und Ivo Lange.
Seitens d&b audiotechnik wurde Stefan „Serge“ Gräfe (d&b Soundscape Enablement Team, branchenbekannt u. a. als FOH-Mischer von Kraftwerk) im Vorfeld beratend für die Produktion tätig. „Es gibt mehrere Installationen, bei denen Soundscape wie bei „Das Floß der Medusa“ in einer Konstellation mit vier Main-Arrays betrieben wird“, berichtete er in Berlin. „Oft spielen dabei Aspekte wie Gewicht und das verfügbare Budget eine Rolle. Je mehr Lautsprecherpositionen bei Soundscape in der Horizontalen zur Verfügung stehen, desto besser ist natürlich die Auflösung.“ Gräfe weiter: „Im Rahmen des Projekts gab es nur vereinzelt Fragen, die vor allem die Cue-Automationssoftware En-Snap von Gareth Owen Sound betrafen. Für das Projekt hat d&b entsprechende Lizenzen zur Verfügung gestellt. Erwähnenswert ist vielleicht noch, dass wir eine experimentelle Firmware für Soundscape verwendet haben, um Holger bei einigen speziellen Aufgaben zu unterstützen. Für uns ist ein solches Projekt auch deshalb interessant, um zu sehen, ob bestimmte Features in Zukunft auch für einen größeren Nutzerkreis interessant sein könnten.“
Holger Schwark war von Sebastian Lipski, dem Leiter der Tonabteilung an der Komischen Oper, angesprochen worden, ein Sounddesign für den Hangar 1 zu entwerfen. „Ich habe ja öfter schon Opern in Orten eingerichtet, die auf den ersten Blick für solche Vorhaben eher ungeeignet erscheinen und kann daher auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Letztlich geht es immer darum, welche Puzzleteile man aus dem umfangreichen Zauberkasten von Akustik und Elektroakustik sinnvoll zusammenfügen kann, um bei einem gegebenen Budget am ehesten zum Ziel zu gelangen. Bei Opernaufführungen besteht das Ziel im Gegensatz zu Musicals normalerweise darin, dass der Klang auf die Gäste so wirkt, als ob keine Verstärkung zum Einsatz käme.“ Simon Böttler von der Komischen Oper ergänzte: „Das ist tatsächlich unser Ziel, weshalb wir uns für ein besonderes Beschallungskonzept entschieden haben, das verblüffend gut funktioniert. Wenn man die Augen schließt, ist die Ortung trotz der schwierigen Umgebungsbedingungen ganz hervorragend: Man denkt wirklich, dass Stimmen von den jeweiligen Positionen der Akteure kommen, obwohl die betreffenden Schallinformationen am eigenen Standort möglicherweise überwiegend aus Lautsprechern stammen.“
Holger Schwark wurde beim ersten Betrachten des Bühnenmodells samt seiner gegenüberliegenden Tribünen recht schnell klar, dass ein konventionelles L/R- oder L/C/R-Setup nicht die geeignete Lösung für die Beschallung sein würde. Er entschied sich für den Einsatz eines d&b Soundscape und nennt als besonderen Vorzug, dass „der zentrale DS100-Prozessor mehrere voneinander unabhängige Summen zeitgleich und zeitrichtig“ bereitstellen kann. „Wenn Schall aus der Anlage im richtigen Moment gemeinsam mit dem originalen Schallereignis an den Ohren der Gäste ankommt, funktioniert die Beschallung unauffälliger – unverstärkte und verstärkte Signale sollten nach Möglichkeit nicht mehr als 15 ms auseinander liegen“, so Schwark. „Im Hangar ist die Gleichzeitigkeit dabei für die Tribüne auf der Westseite eine andere als für die Tribüne auf der Ostseite, was sich mit jeder neuen Position der Darstellerinnen und Darsteller ändert.“
Um den Gegebenheiten gerecht zu werden, war die Beschallungsanlage aus vier unterschiedlichen Segmenten zusammengesetzt:
Tribüne West: Vier eingedrehte Main-Arrays aus jeweils neun d&b T10
Tribüne Ost: Vier eingedrehte Main-Arrays aus jeweils neun d&b T10
Orchester West: 2 × 4 d&b Y8 in Richtung der Westtribüne weisend als zweikanaliges Soundscape-System für den Ortungsbezug, plus vier Y-SUB als geflogene Bassergänzung
Orchester Ost: 2 × 4 d&b Y8 in Richtung der Osttribüne weisend als zweikanaliges Soundscape für den Ortungsbezug, plus vier Y-SUB als geflogene Bassergänzung
„Dass auf jeder Seite des Wasserbeckens vier Main-Arrays angebracht sind, kann als Sweetspot zwischen Ortungsgenauigkeit und Budget beim Wunsch nach einem bestmöglichen Ergebnis betrachtet werden“, antwortete Holger Schwark auf die Frage nach der sonst nicht allzu häufig anzutreffenden Soundscape-Viererkonstellation der Hauptbeschallung. Die Main-Arrays hingen vielleicht etwas höher, als es unter akustischen Gesichtspunkten ideal gewesen wäre. Wie immer musste Rücksicht auf Sichtlinien und die Bedürfnisse anderer Gewerke genommen werden. „Wir machen hier Theater, und das ist bekanntlich nicht nur Akustik“, kommentierte Holger Schwark. Die Zahl der Subbässe war für den musikalischen Content vollkommen ausreichend; besonders tiefe Frequenzanteile lieferten nicht die Stimmen, sondern E-Bass, E-Orgel und große Trommeln. Passend dazu wurden die Subs mit passendem Time-Alignment auf der orchesternahen Seite der Halle geflogen.
Unsichtbar in den Rand des Wasserbeckens eingebaut waren pro Längsseite acht Kling & Freitag Passio-Lautsprecher, die für den gewünschten Zeitraum im Bestand von Neumann&Müller verfügbar waren und als Frontfills mit kompakten Maßen perfekt zu den Gegebenheiten passten. Oberhalb des Orchesters hatte Holger Schwark ebenfalls zehn Passio-Lautsprecher anbringen lassen. Für das Monitoring auf der nassen Hauptspielfläche wählte der Tondesigner acht Punktquellenlautsprecher (d&b Y7P), welche die Protagonist:innen von oben beschallten. Als Verstärker fanden d&b D20 Verwendung, die sich auf zwei Amp-Cities verteilten.
Für die Planung und Simulation der Beschallungsanlage wurde d&b ArrayCalc herangezogen. Detaillierte Raumdaten der leicht gebogenen und in keiner Richtung exakt symmetrischen Halle waren zuvor im Büro von MMT aus dem für die Planung der akustischen Maßnahmen verwendeten EASE-Modell transferiert worden.
Zum im Hangar installierten Soundscape gehörten zwei Prozessoren DS100, die über DMI-Dante-Karten mit den beiden Engines einer Digico Quantum 7 verbunden waren. Der redundante Aufbau sorgte für zusätzliche Sicherheit, aktiv genutzt wurde bei „Das Floß der Medusa“ lediglich ein System. Gearbeitet wurde im Hangar mit einer Abtastrate von 48 kHz. Zum Digico System gehörten drei SD-Racks, die in einem Optocore-Glasfaserring mit der Konsole verbunden waren. Um die digitalen Ausgänge der Drahtlosstrecken Shure Axient Digital nutzen zu können, kam eine AES-I/O-Karte in einem der SD-Racks zum Einsatz.
Tracking-Lösungen wie beispielsweise Systeme von zactrack, die für das Zusammenspiel mit d&b Soundscape geeignet sind, kamen bei „Das Floß der Medusa“ nicht zum Einsatz, was laut Holger Schwark dem zusätzlichen Aufwand und wohl auch der nassen Hauptspielfläche geschuldet war. Statt automatischem Tracking war im Hangar somit Handarbeit angesagt: „Snapshots und Crossfades helfen nur bedingt, weil sich die Positionen der Darstellenden bei jeder Aufführung ändern“, erläuterte Holger Schwark. „Deshalb wird Simon Böttler am FOH von Kaspar Schwabe unterstützt, der als Mitarbeiter der Komischen Oper während der Vorstellungen die Objektpositionen der Solomikrofone in d&b En-Scene passend zum Geschehen steuert.“ Schwark verriet Details: „Interessanterweise hat sich herausgestellt, dass es während eines Satzes oder einer gesungenen Zeile nicht ideal ist, die Position des Sprechenden in der Beschallungsanlage zu verändern, auch wenn sich die Person beim Sprechen bewegt. Eine Tonbewegung wirkt dann eher irritierend, und es ist unserer Erfahrung nach viel besser, wenn der Satz erst zu Ende gesprochen wird, bevor in En-Scene eine Umpositionierung erfolgt.“
Tontechniker Kaspar Schwabe berichtete: „Anfangs dachte ich, dass man der Einfachheit halber vielleicht Überblendungen speichern und dann bei der Aufführung abrufen kann. Nun ist es jedoch so, dass die Bewegungsabläufe nicht an jedem Abend gleich sind – es kommt vor, dass eine Solistin oder ein Solist einen Takt früher oder später loslaufen oder sich in anderer Geschwindigkeit als am Vorabend bewegen. Das liegt zum Teil auch daran, dass im Wasser Treibholz schwimmt, dessen Position natürlich nicht immer gleich ist. Auch wird das Floß im Laufe der Aufführung in seine Einzelteile zerlegt und später wieder zusammengesetzt, wobei das Ergebnis ist nicht jedes Mal das gleiche ist.“
Um die auf einem Computerbildschirm angezeigten Objekte manuell zu bewegen, nutzte Kaspar Schwabe eine Maus. „Es gibt ein paar Stellen, an denen ich ziemlich schnell reagieren muss, und mitunter verbinde ich daher zwei Personen, damit ich sie zusammen bewegen kann“, berichtete er. „Außerdem gibt es ein paar Presets, die mir Simon bei größeren Änderungen vom FOH-Pult schickt – ansonsten arbeite ich aber manuell und erziele damit gute Ergebnisse. Persönlich bin ich übrigens kein großer Fan von Touchscreens, wenn es um die exakte Positionierung der einzelnen Objekte geht: Ich denke, dass ich mit einer Maus genauer bin.“
Kaspar Schwabe war auch federführend für die Shure-Wireless-Systeme der Komischen Oper Berlin verantwortlich: Acht Kanäle (3 × 2 für Solisten plus 2 × Spare) aus der Axient-Digital-Serie sowie bewährte analoge Funksysteme aus der UHF-R-Serie (UR1M Minitaschensender und UR4D Empfänger, 2 × UA845). Drei AD4Q-Vierkanalempfänger waren verfügbar, hinzu kamen drei SRBC-Ladestationen, ein AXT600 Axient Spectrum Manager und ein AXT630 Splitter.
Sie wurden mit zwei aktiven Shure UA874WB Richtantennen betrieben. Im Verlauf der Proben hatte sich herausgestellt, dass eines der beiden „Paddel“ am besten waagerecht in geringer Höhe nahe des Wasserbeckens anzubringen sei, was ungewöhnlich aussah, aber gut funktionierte. „Im Hangar haben wir größere Funkprobleme, die durch die zahlreichen reflektierenden Flächen verursacht werden“, erklärte Kaspar Schwabe. „Aber nach vielen Versuchen haben wir für die Antennen optimale Positionen gefunden.“ Die Belastung des HF-Spektrums im Hangar ist übrigens ähnlich wie in anderen Berliner Veranstaltungsorten; besonderer Funkverkehr im relevanten UHF-Bereich ist auf dem ehemaligen Flughafengelände nicht auszumachen.
Dass der Einsatz von Elektronik an und in einem Wasserbecken mit einem gewissen Risiko behaftet ist, liegt auf der Hand. Entsprechend umfangreich waren die Maßnahmen, um die Taschensender vor Nässe zu schützen. Verwendung fanden unter anderem Aquapac-Taschen, die eigentlich als Schutz für Insulinpumpen konzipiert sind und einen wasserdichten Kabelauslass besitzen. Damit ausgestattet waren die Hauptdarsteller:innen sowie ein Mitglied des Chors, das während seiner Performance eine halbe Stunde lang im Wasser trieb. Außerdem wurde mit Plastikbeuteln aus dem Drogeriemarkt gearbeitet, die sich per Plastikreißverschluss schließen lassen und vor dem Einsatz sorgfältig zugeklebt wurden. „Tatsächlich ist uns trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ein Sender gestorben“, berichtete Kaspar Schwabe über die angesichts eines derart speziellen Settings wohl unvermeidlichen Verluste. Die Hauptdarsteller:innen wurden von Schwabe mit jeweils zwei Taschensendern und zwei Mikrofonen ausgerüstet, um die „Überlebenschancen“ der Übertragung zu verbessern. Drahtloses In-Ear-Monitoring wurde für die klassisch ausgebildeten Musiker:innen und den Dirigenten nicht benötigt, ein paar Wedges waren jedoch im Orchester verteilt.
Über die Wireless-Technik hinaus kamen bei den Aufführungen selbstverständlich zahlreiche kabelgebundene Mikrofone zum Einsatz: Die Orchesterinstrumente wurden mit den üblichen Verdächtigen (Schoeps, Sennheiser, Neumann) abgenommen. Wo es möglich war, kam für zwei Musiker:innen ein gemeinsames Mikrofon zum Einsatz. Ein Grund für die somit in der Summe recht hohe Anzahl an Mikros war das notwendige Monitoring ins Wasserbecken hinein, welches möglichst konkret und nicht zu indirekt sein sollte. Eine Besonderheit war ein Mic-Grid oberhalb des Beckens, das sich aus 3 × 6 Mikrofonpositionen in einem gleichmäßigen Raster zusammensetzte. Abgehängt wurden sechs Sennheiser MKH 416, vier Sennheiser MKH 60 und acht Schoeps MiniCMIT, die von Simon Böttler je nach Szene selektiv in die Tonmischung einbezogen wurden.
Die Aufführung war ein beeindruckendes Erlebnis, jedoch in jeder Hinsicht „schwere Kost“. Ein ernstes Wort/Musik-Werk, endlose Seemeilen entfernt von seichter Abendunterhaltung. Die Toten verschwanden nach und nach wassertriefend in der Dunkelheit, die wenigen Überlebenden wurden am Ende mit gelbem Blinklicht von einem Lotsenfahrzeug abgeholt, das langsam auf das Vorfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof rollte. Die Bühnenwelt öffnete sich der Realität: Direkt nebenan in den Hangars 2 und 3 befindet sich derzeit eine Großunterkunft für hunderte geflüchtete Menschen.
Idunnu Münch begeisterte als Erzählerin und Fährfrau mit roter Rettungsweste im roten Paddelboot, das selbst den Kurs verloren zu haben schien. Gloria Rehm übernahm die Rolle des Todes im schwarz-silbern glitzernden Abendkleid und ließ ihre Stimme virtuos in Tonhöhen steigen, die nicht von dieser Welt zu sein schienen. Günter Papendell gab den Matrosen und Identifikationsstifter, der sich inmitten eines dantesken Infernos um Menschlichkeit bemüht, nach Tagen der allgegenwärtigen Agonie das rettende Schiff entdeckt, am Ende aber stirbt wie so viele andere vor ihm. Dazu der Chor, die „Vielzuvielen“, für welche die Ressourcen nicht reichen – die Lebenden mit atmenden Blasinstrumenten, die Sterbenden mit Wahnvorstellungen von einem über das Wasser wandelnden Jesus, und die Toten, begleitet von elegischen Streicherklängen. Henzes von der Zwölftontechnik beeinflusste Musik ist im positiven Sinne sperrig, nichts bleibt im Ohr hängen, alles ist momenthaft, aber direkt und packend. Der übergroße Orchesterapparat interpretiert das Werk in allen dynamischen Abstufungen vom zarten Pianissimo bis zum extremen Fortissimo – vom feinsten Klangtupfer bis zum breiten musikalischen Pinselstrich ist Géricaults Gemälde bei Hans Werner Henze Musik geworden.
Welche Assoziationen Schiffbrüchige auf maroden Seelenverkäufern im Europa des Jahres 2023 hervorrufen, muss sicher nicht weiter erörtert werden – ebenso wenig wie der Überlebenskampf als Metapher für die Situation der Menschheit, der Firnis der Zivilisation erscheint dünn.
Das Ergebnis der kollektiven Audio-Anstrengungen darf als äußerst gelungen bezeichnet werden und konnte an unserem Platz mittig auf der Westtribüne vollständig überzeugen. Die Erwartungen ausgewiesener Opernfreund:innen wurden auf ganzer Linie erfüllt, wie diversen angeregten Gesprächen im Foyer nach Ende der Vorstellung zu entnehmen war. Der differenzierte Klang in einer akustisch anspruchsvollen Umgebung wurde auch von der lokalen Presse registriert, und so schrieb die B.Z. am 17.9.2023: „Am Ende langer Beifall und viele Bravo-Rufe, auch für das Orchester (Leitung: Titus Engel), das Henzes Werk zwar orkanartig rauschen lässt, aber nie die Durchsichtigkeit verliert. Muss man hören und sehen.“
Da für uns ein Platzwechsel auf der vollbesetzten Tribüne während der laufenden Aufführung aus naheliegenden Gründen nicht möglich war, sei an dieser Stelle Holger Schwark zitiert: „Mit unserem Beschallungskonzept stellt sich auf allen Plätzen ein weitgehend homogenes Klangbild ein. Dennoch ist es in der Praxis natürlich nicht so, dass der Sound auf jedem Sitzplatz absolut identisch ist – zumindest dann nicht, wenn man die Schwelle des eigenen Qualitätsempfindens überall gleich hoch ansetzt … (lacht) Ich kann aber sagen, dass wir im gesamten Publikum ein gleichmäßiges Klangergebnis erzielen – bei den Proben musste ich immer wieder rätseln, was Direktschall war und was meine Ohren elektroakustisch verstärkt erreichte. Das ist natürlich auch ein Kompliment für die akkurate Arbeit von Simon Böttler am Mischpult. Er tariert die Balance stets haarscharf aus und kitzelt zum Beispiel in Chorpassagen die Textverständlichkeit heraus, ohne dass man merkt, was konkret verstärkt wird. Hilfreich für eine solche Herangehensweise ist es natürlich, wenn die Wiedergabe der Beschallungsanlage möglichst gut auf den Direktschall abgestimmt ist. Fest steht, dass bei „Das Floß der Medusa“ sowohl die Richtungswahrnehmung als auch die Darstellung der Klangfarben auf einem erstaunlich großen Teil der Tribünenplätze absolut stimmig ist.“
Simon Böttler wies darauf hin, dass das individuelle Klangerleben der Gäste auch davon abhing, wo welcher Teil des Chors gerade auf der Tribüne agierte: Je nach Sitzplatz hörte man mehr von der einen oder der anderen Chorgruppe, mehr Sopran oder mehr vom Tenor. Der Autor empfand diese natürlich akzentuierte Klangeinhüllung als überaus reizvoll, zumal es mit einem gewissen Überraschungseffekt verbunden ist, wenn plötzlich eine Reihe hinter dem eigenen Sitzplatz mehrere Personen zu singen beginnen. Auch die Ortung der mit Kopfbügelmikrofonen ausgestatteten Hauptdarsteller:innen konnte bei geschlossenen Augen vollständig überzeugen und war beeindruckend gut gelungen.
„Ich wüsste nicht, wie wir das ohne Soundscape in vergleichbar guter Form hinbekommen hätten“, sagte Tonmeister Simon Böttler. „Für mich ist der Einsatz von d&b Soundscape bei „Das Floß der Medusa“ eine Premiere, und ich muss sagen, dass ich nun ein wenig Blut geleckt habe: Mit Soundscape wirkt der Klang sehr natürlich und fühlt sich einfach richtig an.“
Für die Akustikmaßnahmen im Hangar 1 war die Produktionsfirma MMT-TLV Ltd. (www.mmt-tlv.com) mit Sitz in Tel Aviv verantwortlich. Geschäftsführer des Unternehmens ist Dipl.-Ing. Ralf Bauer-Diefenbach, der auch Geschäftsführer der in Berlin ansässigen MMT Network GmbH ist, einem herstellerunabhängigen Planungsbüro mit Schwerpunkten auf Akustik, Medientechnik und Licht. Ergebnisse seiner Arbeit präsentiere er beispielsweise beeindruckend auf der Main Stage der LEaT con 23 in Hamburg in seinem Vortrag „Wie Immersiver Sound und Klangarchitektur Veranstaltungsräume revolutionieren“ – du hast den Vortrag verpasst oder möchtest ihn dir noch einmal ansehen? Dann schau bei unserem LEaT con 23 Relive auf LO:X vorbei! Bei Planung und Umsetzung des Beschallungskonzepts arbeitete Bauer-Diefenbach eng mit Holger Schwark zusammen; die Audioexperten unterhalten seit mehr als 15 Jahren eine Kooperation.
Ralf Bauer-Diefenbach über seine Herangehensweise: „Im ersten Schritt geht es immer darum, zu ermitteln, was die Verantwortlichen erreichen möchten. Bei „Das Floß der Medusa“ geht es um eine perfekte Quellenlokalisation, um Sprachverständlichkeit, um die Durchmischung von Orchester und Gesang sowie um weitere Klangaspekte. Diese Aufgabenstellung lieferte die Ausgangsbasis für unsere Überlegungen, wie der Hangar umzugestalten ist – ein Prozess, den wir als Klangarchitektur bezeichnen. Im leeren Zustand hat der Hangar eine Nachhallzeit von 9 s, was für jemanden, der dort Klangkunst schaffen möchte, im ersten Moment geradezu absurd erscheint. MMT hat den Raum derart akustisch gestaltet, dass Tonmeister wie Holger Schwark und Simon Böttler etwas damit anfangen können. Erst wenn diese Voraussetzungen geschaffen sind, kann man sich Gedanken über ein konkretes Beschallungskonzept machen.“
Die Vorteile eines immersiven Beschallungskonzeptes, das im Hangar 1 mit d&b Soundscape realisiert wurde, sieht Ralf Bauer-Diefenbach nicht nur in einem hochauflösenden und transparenten Klangbild, sondern auch in der Möglichkeit zur Pegelreduzierung: „Ein immersives Beschallungskonzept kann immer leiser gefahren werden als eine konventionelle Beschallung“, so der Diplom-Ingenieur. „Es gibt verschiedene Hersteller, die gute Lösungen für immersives Live-Audio anbieten. Ein entscheidendes Argument für Soundscape war, dass der DS100 Prozessor komplett alle Delay-Zeiten berechnet, die den Laufzeiten des Direktschalls entsprechen. Darüber hinaus konnte er so ausgelegt werden, dass sich bei „Das Floß der Medusa“ vier PA-Systeme gleichzeitig in Betrieb nehmen ließen.“
Bauer-Diefenbach weiter: „Bereits in der frühen Phase der Machbarkeitsuntersuchung konnten wir die Komische Oper Berlin mit modernster akustischer Messtechnik zur Aufnahme und Auswertung von 3D-Raumimpulsantworten maßgeblich bei der Entscheidungsfindung unterstützen. Durch die abschließende messtechnische Untersuchung wurden die Ergebnisse unserer Planung sehr genau bestätigt.“
Bei MMT wurde von Mitarbeiter Martin Klüpfel auf einem leistungsfähigen Rechner eine Simulation mit EASE samt AURA Add-on-Modul erstellt; außerdem wurde die BEM Boundary-Element-Methode für die Akustikplanung herangezogen. Wesentliche Elemente, um die Akustik in der Halle positiv zu beeinflussen, waren die beiden Tribünen (mit Luftraum und porösen Absorbern aus recyceltem PET-Faservlies), mehrere große Moltonvorhänge und passend platzierte Gerriets aQtube-Membranabsorber. „Alle wichtigen Flächen wurden in der Simulation berücksichtigt“, betont Ralf Bauer-Diefenbach. Nach Abschluss der Maßnahmen wurde im leeren Raum eine mittlere Nachhallzeit von 4,5 s gemessen; mit anwesenden Publikum wurden etwa 3,8 s erreicht.